Direkt zum Hauptbereich

Äthiopien

Ihr Lieben,

das heutige Reiseziel ist 

 

Äthiopien

 


 

 

 

 

 

und ich möchte folgendes Werk vorstellen:

 

Nasrin Siege: Asni. Ulrike Helmer Verlag. 2020

    



   

 

 

 

 

    

 

Rezension

Asni ist 13 Jahre alt, glücklich in ihrer Familie und eine fleißige  Schülerin. Von ihrer Zukunft hat sie ein klares Bild: Zunächst möchte sie die Schule mit einem guten Abschluss beenden und sich dann zur Krankenschwester ausbilden lassen. Übers Heiraten denkt sie noch nicht nach, dazu ist sie noch viel zu sehr Kind. Doch dann ändert sich alles von einem Tag auf den anderen als ihr süchtiger Vater sie an den reichen Khat-Bauern Kassahun gegen dauerhafte Lieferungen der begehrten Droge eintauscht. 

Sie soll als inoffizielle Zweitfrau im Haus des Drogenhändlers leben - eine verbotene, aber offenbar tolerierte Praxis. Äthiopien ist eines der ältesten christlichen Länder in Afrika und Polygamie wird dort auch von den Vertretern der christlichen Kirchen abgelehnt, trotzdem greift niemand ein, als Asni von ihrem viel älteren "Bräutigam" abgeholt wird. Sogar Entführungen mit anschließender Vergewaltigung gehören zur gängigen Eheschließungspraxis. 

An ihre neuen Wohnort entgeht Asni zunächst sexuellen Übergriffen durch den Hausherrn, weil sich die Frauen des Haushalts, vor allem seine Mutter und seine Schwester, gegen ihn stellen. Hierbei geht es aber nicht grundsätzlich um die Frage, ob man ein junges Mädchen zur Ehe zwingen kann, sondern nur um den Zeitpunkt. Solange Asni noch keine Monatsblutung hatte, ist sie für die Frauen ein Kind, das nicht angefasst werden darf. Allerdings kündigen sie ebenso klar an, dass sie ihren Widerstand aufgeben werden, sobald Asni zum ersten Mal menstruiert. 

Als Kassahun Asni betrunken und von Khat benebelt auf dem Markt in aller Öffentlichkeit angreift, weiß sie, dass sie jetzt nicht mehr länger warten kann und ihre langgehegten Fluchtpläne in die Tat umsetzen muss. Für kurze Zeit kommt sie bei ihrem Bruder unter, dann reist sie mit dessen Hilfe in die Hauptstadt, nach Addis Abeba, zum Bruder der Mutter. Dieser soll Asni in der Schule anmelden und ihr die ersehnte Ausbildung ermöglichen. Tatsächlich sehen er und seine Frau das Mädchen aber nur als kostenlose Haushaltshilfe. 

Rechtlos und ohne Unterstützung muss sich Asni den betrügerischen Verwandten beugen. Erst als die Ehefrau des Onkels schließlich behauptet, Asni habe gestohlen, läuft das Mädchen erneut weg und lebt schließlich mit anderen Kindern und Jugendlichen auf der Straße. 

Ich will das Ende der Geschichte nicht vorwegnehmen. Was ich jedoch sagen kann, ist, dass in Asni durch die Vielzahl der durchlebten Bedrohungen, Kränkungen und Verbrechen der Widerstand gegen die Unterdrückung ihres Geschlechts wächst. Diese Entwicklung stimmt hoffnungsvoll und hebt den Roman von anderen ab, die darin verharren, bestehendes Leid zu beschreiben ohne eine Perspektive aufzuzeigen. Aus dem Kind Asni, das an der Situation zu verzweifeln droht, wird eine starke junge Frau, der einiges an Tatkraft zuzutrauen ist.

Nasrin Siege hat das Thema ihres Romans, auf die Praxis der Kinderehe in Äthiopien aufmerksam zu machen und Mitgefühl für die Opfer bei den Lesenden zu wecken, voll und ganz erreicht. Allerdings schließt man die Protagonistin beim Lesen mit der Zeit so ins Herz, dass man automatisch mehr darüber erfahren möchte, was ein so starkes Mädchen als Erwachsene vollbringen kann und wie sie sich in der extrem patriarchalischen Gesellschaft Äthiopiens am ende durchsetzt. 

Diese Erwartungshaltung führt zu der einzigen Kritik, die ich üben möchte. Nachdem wir Lesende einen weiten Weg mit Asni zurückgelegt haben, kommt der Schluss gefühlt sehr plötzlich und lässt viele Fragen offen. Normalerweise bin ich eine große Freundin von Leerstellen in Romanen, die man durch die eigene Fantasie oder das Lesen von Artikeln zum Thema füllen kann. In diesem Fall jedoch - und das kommt in meinem Lesealltag so gut wie nie vor - würde ich mich über eine Fortsetzung freuen.

 

Leseprobe

Der Gesang der Frauen dringt ins Haus. Asni kennt das Lied, hat es schon oft mit ihrer Mutter gesungen, wenn sie mit dem Stößel im großen Mörser Getreide zu Mehl stampften. Um den Mörser lagen die von den Körnern getrennten Blätter und Halme. Mit dem Lied feuerten sie sich gegegnseitig an, trotz der müden Arme weiterzustampfen.

Emama summt mit und als Asni leise einstimmt, kneift sie ihr zärtlich in die Wange. 

>>Ich will nach Hause<<, traut sich Asni zu sagen.

>>Ich weiß.<< Emama schaut sie mit ernsten Augen an. >>Erzähle mir von deiner Familie ... Wie viele Kinder seid ihr?<<

Fantaye kommt dazu und Asni erzält mit einem Leuchten im Gesicht von ihrer Mutter, von Beti und Maru. Die Frauen fragen nicht nach dem Vater. 

>>Ich will nach Hause!<<

>>Und dann?<< Emama tätschelt sie am Arm.

>>Dann gehe ich wieder zur Schule..."<<

Und Dein Vater wird das zulassen,"<< Fantaye schaut skeptisch.

>>Nein.<< In Asni ist ganz viel Trauer. >>Er wird mich hierher zurückbringen.<<

>>Ich war so alt wie du als ich geheiratet habe.<< Emama legt den Arm um sie. >>Ein älterer Mann hatte um meine Hand angehalten. Als meine Eltern mich ihm nicht geben wollten, hat er mich beim Wasserholen entführt und mit Gewalt genommen... <<

>>Kassuans Vater?<<

>>Ich musste ihn heiraten.<< Emama seufzte tief.

 

Angemerkt

Asnis Geschichte ist leider keine bloße Fiktion und nicht einmal ein trauriger Einzelfall. Terre de Femme berichtet, dass mehr als 40% der äthiopischen Mädchen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet werden. Damit liegt das Land weit vorn, was die Eheschließungen mit Minderjährigen angeht. Zwei von fünf Mädchen werden bereits im Alter von 15 Jahren oder jünger verheiratet.

 

Facts zur Autorin:


 

 









Copyright: Nasrin Siege, Privat

Nasrin Siege ist Schriftstellerin und Psychotherapeutin. Geboren wurde sie in Teheran, aufgewachsen ist sie in Deutschland. Insofern weite ich meine Kriterien für die heutige Buchauswahl ein wenig aus. Die Autorin stammt nicht aus Äthiopien, hat aber viele Jahre in verschiedenen afrikanischen Ländern gelebt, darunter auch in Äthiopien. Sie schreibt nicht nur über die Menschen, vor allem die Kinder, die sie während dieser Zeit kennengelernt hat, sondern engagierte sich auch immer für sie, zum Beispiel in verschiedenen Straßenkinderprojekten. Außerdem ist sie Mitbegründerin des Vereins "Hilfe für Afrika e.V." in Gießen.


Weitere Bücher der Autorin:

Sombo, das Mädchen vom Fluss, Erzählung, Beltz, Weinheim 1990.

Kalulu und andere afrikanische Märchen, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 1993.

Wie der Fluss in meinem Dorf, Erzählung, Beltz, Weinheim 1994.

Der Tag des Regenbogens. Märchen, Mythen und Geschichten, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 1995.

Shirin, Roman, Beltz, Weinheim 1996.

Juma. Ein Straßenkind aus Tansania, Beltz, Weinheim 1998.

Leben auf eigene Faust. Straßenkindergeschichten aus vier Kontinenten, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 1999.

Als die Elefanten kamen, Roman, Beltz, Weinheim 2001.

Hyänen im hohen Gras. Spuren in der Serengeti, Erzählung, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2004.

Die Piraten von Libertalia, Roman, Bloomsbury 2009.

Warum der Löwe brüllt, Bilderbuch, Text: Nasrin Siege, Illustrationen von Barbara Nascimbeni, Peter Hammer Verlag 2009.

Ich kehre zurück, Dadabé, Roman, Brandes & Apsel 2011.

Die Spur des Elefanten, Roman, Razamba Verlag, 2014

Shirin – Wo gehöre ich hin?, Roman, Razamba Verlag, 2015

Der Honigvogel. Geschichten aus Afrika, Erzählungen, Razamba Verlag, 2016

 

Preise

1993 Kinderbuchpreis der Stadt Berlin 

2006 Two Wings Award für ihr soziales Engagement und ihre Verdienste um das Sammeln afrikanischer Märchen

 

Eine Autorin aus Äthiopien

Maaza Mengiste

 

Links zur Autorin

https://www.nasrin-siege.com

https://www.deutschlandfunkkultur.de/kinder-und-jugendbuchautorin-nasrin-siege-ich-bin-eine.970.de.html?dram:article_id=477334#:~:text=%20Kinder-%20und%20Jugendbuchautorin%20Nasrin%20Siege%20%E2%80%9EIch%20bin,Die%20%E2%80%9Edreckige%20Hautfarbe%E2%80%9C%20mit%20Seife%20waschen.%20More

 

Links zum Thema

https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kinderehen-weltweit-eine-multimedia-reportage-a-1128246.html

https://www.spiegel.de/fotostrecke/kinderehe-in-aethiopien-reportage-fotostrecke-143928.html

https://www.frauenrechte.de/index.php/themen-und-aktionen/gewalt-im-namen-der-ehre/schwerpunkt-fruehehen/laenderprofile/1731-aethiopien

https://www.globalcitizen.org/de/content/5-countries-with-highest-child-marriage/

Zwölf Frauen und 78 Kinder: Polygamie in Äthiopien - n-tv.de (n-tv.de) 

 

Fundstück

Interessant ist, dass bereits im Gründungsmythos Äthiopiens, dem
„Der Ruhm der Könige“ (Kebra Nagast) die jüdisch-christlichen Ursprünge des Landes mit einem klaren Fall von Nötigung in Verbindung gebracht werden. Die äthiopische Königin Mâkedâ, von der einige Forscher glauben, dass es sich bei ihr um die sagenhafte Königin von Saba gehandelt haben muss, besucht den jüdischen König Salomo, um sich mit dem viel gerühmten Weisen intellektuell auszutauschen.

Er dagegen ist, so im "Ruhm der Könige" nachzulesen, nur an einem sexuellen Abenteuer interessiert. Enttäuscht will Mâkedâ abreisen, nur eine letzte Übernachtung im Palast des aufdringlichen Königs muss sie noch hinter sich bringen. Mâkedâ bleibt beim Abendessen reserviert, doch der König provoziert sie so sehr, dass sie schwört, sich ihm hinzugeben, wenn sie je etwas begehrt, das ihm gehört.

Natürlich hätte sich die Königin nicht im Traum einfallen lassen, dass der wegen seiner Klugheit gepriesene König auf einen billigen Trick zurückgreifen würde. Kurzerhand lässt er das Abendessen versalzen und alle Trinkgelegenheiten entfernen oder abdecken. In der Nacht bittet die vor Durst halb wahnsinnige Königin schließlich um ein Glas Wasser und muss als Gegenleistung dafür prompt das Bett mit dem König teilen.

Produkt dieser erzwungenen Nacht war laut Kebra Nagast Menelik, der erste äthiopische König. Und obwohl sich sein realer Machtanspruch in der Heimat seiner Mutter von Mâkedâ ableitete, nutzte er die jüdische Tradition, die allein Männern den Herrschaftanspruch zubilligte, für seine Zwecke. Er führte die Religion seines Erzeugers ein und erreichte damit offenbar, was er wollte: Weitere Königinnen gab es seither nicht. 

Welche Rolle die Überlieferung heute noch in der Bevölkerung spielt, weiß ich leider nicht. Kirchenmänner haben diesen frühen Fall von Nötigung und Vergewaltigung später verklärt und vor allem als Beispiel für „(weibliche) Hochmut kommt vor den Fall“ rezipiert. 

Natürlich könnte Königin Mâkedâ, ganz gleich, was ihr an Salomos Hof widerfahren sein mag, heute durchaus ein positives Beispiel für eine starke äthiopische Frau abgeben. Sie regierte der Legende nach allein ein riesiges Reich, besaß unermessliche Schätze und agierte völlig unabhängig. Eine neue Erzähltradition dieser Geschichte könnte die alte Argumentation von Männern "Es war schon immer so..." und "Es ist Gottes Wille..." entkräften helfen. 

   


Kommentare

  1. Liebe Ruth Omphalius,
    danke für die sehr schöne und informative Rezension. Ich freue mich sehr darüber! Ich kann alles, was Sie in der Rezension geschrieben haben, mit vollem Herzen annehmen, fühle mich als Autorin verstanden und vor allem spüre ich, dass Sie Asni "gesehen" haben, dass Sie ihr nahe gekommen sind.
    Geschichten wie die von Asni sollten bemerkt, beachtet und gelesen werden, so wie die Asnis dieser Welt gesehen und geachtet werden sollten.
    Asnis Welt ist keine heile Welt und weil das nicht der Fall ist, hat Asni bzw. ihre Geschichte es schwer in der heilen Welt anzukommen, Beachtung zu finden, gelesen zu werden ...
    Für mich ist Ihre Rezension ein Geschenk für Asni und natürlich auch für mich!
    Danke!
    Mit lieben Grüßen, ihre Nasrin Siege

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Nasrin Siege,
    vielen, vielen Dank für Ihren freundlichen Kommentar. Ich freue mich wirklich sehr darüber.
    Dieser Blog hat mir ja schon viele außergewöhnliche Frauenschicksale aus aller Welt vor Augen geführt, aber Asnis Geschichte hat mich wirklich tief bewegt.
    Ganz besonders beeindruckend fand ich, ihren Entschluss zu kämpfen, nicht alles Übel weiterhin zu erdulden, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas verändern zu wollen.
    Vielen Dank für dieses wundervolle Buch und weiterhin viel Erfolg bei Ihrem Engagement für phantastische junge Frauen wie Asni.
    Ruth Omphalius

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Ruth Omphalius,
      genau das habe ich in Ihrer Rezension gespürt ... Ihre Anteilnahme, Ihre Betroffenheit und dass Asni Sie berührt hat. Während des Schreibens lebte ich mit Asni mit; vor Augen hatte ich all die Mädchen, die ich im Laufe der Jahre in den verschiedenen Projekten kennengelernt hatte, deren Geschichten ich kannte, und für die Asni stellvertretend im Buch spricht, fühlt, agiert, reagiert, sich wehrt. Das Buch ist zuerst (2016) in Amharisch in Äthiopien erschienen. Es wird von einer Partner-NGO kostenlos in Schulen, Bibliotheken und Kinderhilfsprojekten verteilt und ich habe erfahren, dass es gerade von Mädchen und jungen Frauen sehr gerne gelesen wird.
      Herzliche Grüße
      Nasrin Siege

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie kam es zu diesem Blog?

2017/18 habe ich mit meiner Tochter Sarah das große Abenteuer unternommen, auf Weltreise zu gehen. Eigentlich wollten wir schon damals aus jedem Land, das wir besuchten, wenigstens ein Buch lesen (wenn schon nicht während der Reise, dann doch wenigstens, sobald wir wieder zu Hause waren).  Wie immer im Leben hatten wir uns ein wenig zu viel vorgenommen. Mittlerweile sorgt bekanntermaßen ein böses Virus, dessen Namen man wie etwa bei Lord V aus Harry Potter oder antiken Rachegöttern gar nicht mehr nennen mag, dafür, dass Reisen aus Sicherheitsgründen besser nur im Kopf stattfinden. Also habe ich mir überlegt, dass doch eine Lese-Weitreise jetzt genau das Richtige wäre.  Als ich dann im Netz recherchierte, habe ich festgestellt, dass es schon ein paar andere Weltreisende in Sachen Literatur gibt. Zum Beispiel hat mir der Blog von Ann Morgan gut gefallen: https://www.thebooktrail.com/authorsonlocation/reading-the-world-ann-morgan/ Und obwohl es bisher nur wenige sind, die ein so umf

Belgien

  Ihr Lieben, heute sind wir wieder Mal in Europa unterwegs, und zwar in   Belgien                   Unter den zahlreichen Titeln, die belgische und flämische Autorinnen publiziert haben, ist mir dieses Bändchen besonders ins Auge gesprungen - vermutlich, weil ich mich nach all den ernsten Sujets unserer Lesereise selbst gern der Kunst des Champagnertrinkens hingeben würde. Man kann ja immer noch dazulernen…   Amélie Nothomb: Die Kunst, Champagner zu trinken. Zürich. Diogenes, 2019                       Rezension Ich muss zugeben, dass ich Amélie Nothomb bislang nicht kannte, obwohl sie schon zahlreiche Romane veröffentlicht hat. Bei der Auswahl habe ich mich voll und ganz auf den Covertext verlassen. Da heißt es: „Zwei Schriftstellerinnen, eine Leidenschaft: Amélie und Pétronille suchen den Rausch – in der Literatur und im Champagner. In Paris besuchen sie eine Degustation im Ritz, sie feiern in London und in den Alpen. Doch es gibt Dämonen, die sich auch