Ihr Lieben,
heute sind wir wieder Mal in Europa unterwegs, und zwar in
Belgien
Unter den zahlreichen Titeln, die belgische und flämische Autorinnen publiziert haben, ist mir dieses Bändchen besonders ins Auge gesprungen - vermutlich, weil ich mich nach all den ernsten Sujets unserer Lesereise selbst gern der Kunst des Champagnertrinkens hingeben würde. Man kann ja immer noch dazulernen…
Amélie Nothomb: Die Kunst, Champagner zu trinken. Zürich. Diogenes, 2019
Rezension
Ich muss zugeben, dass ich Amélie Nothomb bislang nicht kannte, obwohl sie schon zahlreiche Romane veröffentlicht hat. Bei der Auswahl habe ich mich voll und ganz auf den Covertext verlassen. Da heißt es: „Zwei Schriftstellerinnen, eine Leidenschaft: Amélie und Pétronille suchen den Rausch – in der Literatur und im Champagner. In Paris besuchen sie eine Degustation im Ritz, sie feiern in London und in den Alpen. Doch es gibt Dämonen, die sich auch im besten Schaumwein nicht ertränken lassen. Ein spritziger Roman über die Trunkenheit – und eine Ode an die Freundschaft.“
Bei so einer Ankündigung darf man doch erwarten, dass sich feingeistige Damen mit einer gewissen Leichtigkeit das ein oder andere Gläschen gönnen und sich nach kleineren Missverständnissen am Ende champagnerseelig in den Armen liegen. Kurz gesagt: Der tatsächliche Inhalt könnte nicht weiter von der Annonce abweichen.
Die Hauptfigur Amélie ist Schriftstellerin und trinkt keineswegs nur mal ein Schlückchen. Vielmehr ist sie wie einst Hemmingway seinem Whiskey on the Rocks ihrerseits dem Champagner ergeben. Überhaupt erinnert viel an den alten Haudegen. Die Schriftstellerin trinkt ebenfalls gegen ihre Schwermut an, ertränkt alles Böse oder Belanglose dieser Welt. Sie belohnt sich, geniest den goldenen Trank als Medizin und glaubt, ohne den flüssigen Helfer nicht schreiben zu können.
Für Ernest gehörte das Alkohol-Trinken zum Mann-Sein, für Amélie (zumindest für die Protagonistin des Buches) gehört Champagner-Trinken offenbar zum Frau-Sein, wenn nicht gar zum Mensch-Sein überhaupt. Und wie Hemmingway trinkt die Amélie-Figur im Buch am liebsten mit anderen zusammen. Genau damit nehmen die Dinge ihren Lauf. Als Amélie beschließt, einen Saufkumpan bzw. eine Saufkumpanin zu suchen, trifft sie auf Pétronille, die aber im Gegensatz zu dem, was der Klappentext behauptet, zunächst eben keine Schriftstellerin ist, sondern ein Fan - oder sogar eine Stalkerin.
Die beiden haben außer ihrer Vorliebe für Literatur und Trinken eigentlich kaum etwas gemeinsam. Während Amélie aus einer dekadenten Oberschicht stammt und im Verlauf der Geschichte mehr als einmal dem inneren Snob freien Lauf lässt, ist Pétronille eine Proletarierin reinsten Wassers und entsprechend krass in Sprache und Verhalten.
Um noch einmal auf den Umschlagtext zurückzukommen. Ich vermute stark, dass der Text von einem Mann geschrieben worden sein könnte, denn der Begriff „Freundschaft“ scheint mir nicht wirklich zum Verhältnis der beiden Protagonistinnen zu passen. Wenn man zusammen trinkt, heißt das bei Frauen noch lange nicht, dass man auch befreundet ist.
Letztlich sind die beiden Ko-Abhängige, wobei es hier nicht nur um Champagner geht, sondern auch um die Sucht schreiben zu müssen und „echte Schicksale“ zu brauchen, um dies tun zu können.
Was aber passiert, wenn die Grenzen fallen und die Hauptfigur, die eben noch eine Autorin inspiriert hat, plötzlich selbst zur Schriftstellerin wird und plötzlich ein Spiel nach eigenen Regeln beginnt – ein Russisches Roulette mit ungewissem Ausgang.
Um es kurz zu machen: Ich habe das 143-Seiten-Werk mit großem Genuss gelesen.
Leseprobe
Inzwischen hatte ich die Flasche geleert und war vollkommen betrunken. Ich stand auf und versuchte zu gehen. Meine Beine wunderten sich, dass ein so komplizierter Tanz zu normalen Zeiten keinerlei Anstrengung erforderte. Ich wankte zum Bett und fiel hinein.
Diese Selbstentledigung war eine Lust. Ich begriff, dass der Geist des Champagners mein Verhalten guthieß: Ich hatte ihn mit größter Ehrerbietung empfangen und in mir aufgenommen wie einen hohen Gast, dafür überhäufte er mich mit seinen Wohltaten; bis zum finalen Schiffbruch gab es nichts, was keine Gnade war. Hätte Odysseus den edlen Leichtsinn besessen, sich nicht am Mast festzubinden, er wäre mir dorthin gefolgt, wo mich die äußerste Macht dieses Elixiers hinzog, er wäre mit mir in die tiefen des Meeres getaucht, eingelullt vom blonden Gesang der Sirenen.
S. 9
Facts zur Autorin
Amélie Nothomb
Foto: © Catherine Cabrol
Amélie Nothomb, eigentlich Fabienne Claire Nothomb, ist eine Frau so schillernd wie ihre Figuren. Als Tochter eines belgischen Diplomaten lebte sie als Kind und Jugendliche in Japan, China, New York, Burma und Laos und kam nach Europa als sie 17 Jahren alt war. Sie studierte Romanistik an der Université Libre in Brüssel und arbeitete nach ihrem Abschluss zunächst in einem Großunternehmen in Tokio. Heute heißt ein Asteroid nach ihr und König Philippe verlieh ihr den Titel einer Baronin. Der Stoff aus dem Romane sind…
Ihren Erstling veröffentlichte Nothomb 1992 in Belgien. Bereits das Debut „Die Reinheit des Mörders“ war so erfolgreich, dass sie seither als Schriftstellerin arbeitet und jedes Jahr ein neues Buch herausbringt.
Preise (Auswahl)
1999 Grand Prix du Roman der Académie française für den Roman Stupeur et tremblements
2007 Prix de Flore für den Roman Roman Ni d’Ève, ni d’Adam
2008 „Grand Prix Jean Giono“ für das Gesamtwerk
Weitere Bücher der Autorin:
Hygiène de l’assassin. 1992 (deutsch: Die Reinheit des Mörders, Diogenes Verlag, Zürich 1994)
Le Sabotage amoureux. 1993 (deutsch: Liebessabotage, Diogenes Verlag, Zürich 1995)
Légende un peu chinoise. 1993
Les Combustibles (Theaterstück), 1994
Les Catilinaires. 1995 (deutsch: Der Professor, 1997)
Péplum, Diogenes Verlag, Zürich 1996
Attentat, 1997 (deutsch: Attentat, Diogenes Verlag, Zürich 2006)
Mercure, 1998 (deutsch: Quecksilber, 2001)
Stupeur et tremblements, 1999 (deutsch: Mit Staunen und Zittern, Diogenes Verlag, Zürich 2000)
Le Mystère par excellence, 1999
Métaphysique des tubes, 2000 (deutsch: Metaphysik der Röhren, Diogenes Verlag, Zürich 2002)
Brillant comme un casserolle, 2000
Cosmétique de l’ennemi, 2001 (deutsch: Kosmetik des Bösen, Diogenes Verlag, Zürich 2004)
Aspirine, 2001
Sans nom, 2001
Robert des noms propres, 2002
auf Deutsch: Im Namen des Lexikons. Diogenes Verlag, Zürich 2003
Antéchrista. 2003
Übers. Brigitte Große: Böses Mädchen. Diogenes Verlag, Zürich 2005
L’Entrée du Christ à Bruxelles. 2004
Biographie de la faim. 2004 .
auf Deutsch: Biographie des Hungers. Diogenes Verlag, Zürich 2009
Acide sulfurique. 2005
auf Deutsch: Reality Show, Diogenes Verlag, Zürich 2007
Journal d’Hirondelle, 2006
Ni d’Ève, ni d’Adam, 2007
auf Deutsch: Der japanische Verlobte. Diogenes Verlag, Zürich 2010
Le Fait du Prince. 2008
Le Voyage d’hiver. 2009
Übers. Brigitte Große: Winterreise. Diogenes Verlag, Zürich 2011
Une forme de vie, 2010
auf Deutsch: So etwas wie ein Leben. Diogenes Verlag, Zürich
Tuer le père. 2011
auf Deutsch: Den Vater töten, Diogenes Verlag, Zürich 2012
Barbe bleue, 2012
auf Deutsch: Blaubart. Diogenes Verlag, Zürich 2014
La Nostalgie heureuse. 2013
Übers. Brigitte Große: Eine heitere Wehmut. Diogenes Verlag, Zürich 2015
Pétronille. Roman. Albin Michel, 2014
Übers. Brigitte Große: Die Kunst, Champagner zu trinken. Diogenes Verlag, Zürich 2016
Le Crime du comte Neville. Albin Michel, 2015
Übers. Brigitte Große: Töte mich! Diogenes Verlag, Zürich 2017
Riquet à la houppe. Albin Michel, 2016
Übers. Brigitte Große: Happy End. Diogenes Verlag, Zürich 2018
Frappe-toi le cœur. Albin Michel, 2017
Übers. Brigitte Große: Klopf an dein Herz. Diogenes Verlag, Zürich 2019
Les Prénoms épicènes. Albin Michel, 2018
Soif. Albin Michel, 2019
Übers. Brigitte Große: Die Passion. Diogenes Verlag, Zürich 2020
Les aérostats. Albin Michel, 2020
Weitere Autorinnen aus Belgien
Madeleine Bourdouxhe
Élisa Brune
Rosine De Dijn
Misha Defonseca
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Jacqueline Harpman
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Julia Tulkens
Annelies Verbeke
Links zur Autorin
http://www.amelie-nothomb.com/
https://www.borromaeusverein.de/auslese/portraets/portraet-amelie-nothomb/
Links zum Buch
https://literaturkritik.de/id/22150
https://svenhensel.de/rezension-die-kunst-champagner-zu-trinken-von-amelie-nothomb-diogenes-verlag/
https://kimonobooks.de/buecher/rezension/amelie-nothomb-die-kunst-champagner-zu-trinken/
Links, die das Thema ergänzen
https://www.i-p-bm.com/images/Literatur_und_Presse/star%20stalker.pdf
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