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Afghanistan

Hallo, Ihr Lieben!

Ich beginne meine Lesereise heute also mit Afghanistan. 

 


 

 

 

 

 

 

 

Das ist eine wirklich große Sache für mich, denn ich trage den Gedanken an diesen Blog schon eine ganze Weile mit mir herum. Momentan gehe ich von 193 Ländern aus, die ich zumindest ein bisschen kennenlernen möchte, indem ich ein besonderes Buch lese. 193 Länder - das bedeutet bei einem Post pro Woche immerhin 193 Wochen. Oder über 3 1/2 Jahre. Bin gespannt, ob das klappt. Jetzt ist es also so weit.

Ach ja, übrigens hatte ich in der vergangenen Woche gar nicht erwähnt, dass ich in alphabetischer Reihenfolge von Land zu Land springen werde. Das hat vor allem zwei Gründe. Zum einen unterscheiden sich so vermutlich die Inhalte der einzelnen Bücher deutlicher voneinander als wenn man Kontinent für Kontinent bereist. Und diese Abwechslung gefällt mir sehr. Außerdem zwingen mich zahlreiche Werke dazu, deutlich außerhalb meiner Komfort-Zone zu lesen. Auch da hoffe ich auf eine Mischung, die es mir erlaubt, Schweres und Leichtes, Trauriges und Komisches im Wechsel zu entdecken.

 

Folgenden Titel habe ich mir für Afghanistan ausgesucht:





 

 

 

 

 

 

 

 

Nadia Hashimi: Hinter dem Regenbogen. Übersetzt von Rainer Schumacher. Bastei Lübbe Verlag 2017

Wow, das erste Buch in einem völlig leergeräumten Bücherregal! Bin gespannt, wie viele Regalmeter meine Weltlektüre am Ende so einnehmen wird. 

Allerdings muss ich schon gleich bei diesem ersten Buch meine ursprünglichen Auswahlkriterien ein weiteres Mal ausweiten. Nadia Hashimi hat nie in Afhanistan gelebt, sie stammt allerdings aus einer Auswandererfamilie. Letztlich habe ich mich für die Geschichte entschieden, weil bereits der Klappentext Ungewöhnliches verspricht.

      

Rezension

Erzählt wird die Geschichte von zwei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten in Afghanistan als Männer verkleidet leben bzw. lebten. Die Umstände, die sie zum Leben als Mann zwingen, sind unterschiedlich, aber die Motive sind dieselben. Nur in der Verkleidung als Männer können sie ein unabhängiges Leben führen.

In der Gegenwart ist es Rahima, die schon als Mädchen zum Bacha Posh wird. Wenn eine Ehe ohne Söhne bleibt, lässt diese afghanische Tradition Familien die Möglichkeit offen, ein Mädchen als Jungen großzuziehen. Für Rahima ist die Kindheit als Junge wunderbar. Sie kann im Freien spielen, mit den Jungs kicken und ist von der Arbeit im Haushalt befreit. Für die Mutter ist der Bacha Posh die einzige Möglichkeit, ihren Haushalt am Laufen zu halten. Ihr vom Krieg traumatisierter und drogenabhängiger Mann erfüllt schon lange nicht mehr seine von der Gesellschaft vorgegebene Pflicht, den Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Wenn der Bacha Posh nicht Einkäufe und Hilfsarbeiten im Freien übernehmen würde, müsste die Familie verhungern.

Von einer Tante erfährt Rahima, dass sie nicht die erste Frau ihrer Familie in Männerkleidern ist. Ihre Ahnin Shekiba machte sogar eine erstaunliche Karriere als Haremswächter am Hofe König Habibullahs, der eine Frauen-Elitetruppe ausbilden und als Männer verkleiden ließ, um seine Ehefrauen zu bewachen. Männerkleidung und Waffen waren nötig, um eine abschreckende Außenwirkung zu erzielen. Gleichzeitig konnte der Herrscher aber sicher sein, dass alle Kinder des Harems auch tatsächlich seine Nachkommen waren.

Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt. Die beiden Lebensgeschichten sind außergewöhnlich und beide Frauenfiguren zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie selbst in den aussichtslosesten Situationen die Kraft aufbringen, immer weiterzumachen und ihren eigenen Weg zu finden. Es wird auch deutlich, wie wichtig es ist, Vorbilder zu haben. Frauen in aller Welt haben ja großen Nachholbedarf, was Vorbilder angeht. Archäologie und Geschichtsschreibung - oder wie hier Familiengeschichte - sind in der Regel über lange Zeiträume männlich geprägt gewesen. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass ein großer Teil der Biografien, die den Überliefernden nicht gefielen, einfach verloren gingen. Ich fand daher den Blick in zwei Lebenswelten nicht nur jeweils als Charakterisierung einer bestimmten Zeit interessant, sondern vor allem als HInweis darauf, dass Emanzipation kaum voranschreiten kann, wenn die Geschichte von Frauen früherer Generationen direkt wieder verloren geht. Anhand der zahlreichen weiblichen Nebenfiguren, die alle völlig isoliert oder sogar in Konkurrenz zueinander ihre jeweiligen Ziele verfolgen (den Tag überleben, die Zukunft der Kinder absichern, die alten Eltern unterstützen, religiöse und gesellschaftliche Normen umsetzen...), wird deutlich, welche Anstrengungen Frauen unternehmen müssen, um unter widrigsten Umständen zu überleben. Ohne Kontinuität bleiben sie allerdings immer innerhalb ihres Systems und entwickeln sich - anders als Rahima und
Shekiba - nicht weiter.


Angemerkt

Die afghanische Jeanne d'Arc

Natürlich haben mich die ungewöhnlichen Biografien der beiden Frauen, die in verschiedenen Epochen als Männer lebten, neugierig gemacht. Sind solche Gestalten reine Fantasie oder gibt es historische Beispiele? Tatsächlich gibt es sowohl die Tradition des Bacha Posh als auch weibliche Haremswächter. Darüber hinaus hat Afghanistan sogar eine berühmte Kriegerin zu bieten. Malalai Noorzai von Maiwand (د ميوند نورزئی ملالۍ), war für die Afghanen offenbar so etwas wie Jeanne d'Arc für Frankreich i. 

Sie zog mit ihrem Herrscher Ayub Khan in die Schlacht - ironischerweise wie Jeanne d'Arc auch gegen die Engländer. In der Schlacht von Maiwand führte sie die paschtunischen Truppen erfolgreich gegen die Truppen der britischen Besatzung Indiens (British Raj). Leider fiel Malalai am 27. Juli 1880 im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie der Überlieferung nach erst zwischen 17 und 19 Jahren alt. 

 

Leseprobe: Hinter dem Regenbogen

Bald darauf schlief ich an jenem Tag ein. Ich träumte von Mädchen in grünen Schleiern. Es waren Hunderte, und alle stiegen sie den Berg nördlich unseres Dorfes hinauf. Ein smaragdgrüner Strom floss in Richtung Gipfel, und auf der anderen Seite fielen sie eine nach der anderen wieder herunter, die Arme ausgesteckt wie Flügel. Sodass es aussah, als wüssten sie, wie man fliegt.

In einem Haus mit nur drei Zimmern konnte ich meiner Mutter nicht ewig aus dem Weg gehen. Ich sah ihre geschwollene Lippe und das lange Gesicht, und ich hoffte, dass sie die Reue in meinen Augen sah.

»Madar-jan … Ich … Ich …  Es tut mir leid, Madar-jan.« »Ist schon gut, Bachem. Es ist genau so sehr meine Schuld wie deine. Was habe ich dir angetan? Ich hätte dem Ganzen schon vor langer Zeit ein Ende bereiten sollen.« »Aber ich will nicht,  dass du …«  

»Bald wird sich alles ändern. Da bin ich mir sicher, und ich fürchte es liegt nicht mehr in meiner Hand. Wir werden ja sehen, welches Schicksal Allah für dich bereithält. Dein Vater handelt oft überstützt, und es ist auch nicht gerade hilfreich, dass deine Großmutter ihm ständig Sachen ins Ohr flüstert.«

»Was glaubst du, was wird er tun? «, fragte ich nervös. Ich war erleichtert, dass meine Mutter nicht wütend auf mich war. Sie lag auf der Seite, meine kleine Schwester neben ihr.

»Männer sind unberechenbar«, sagte Madar-jan. Ihre Stimme klang müde und abgekämpft. »Allah allein weiß, was er tun wird.«

  Seite 139

 

Besonderes Wort: Shekiba (Geschenk)

Viele Menschen sehen ihre Kindern als ein Geschenk. Was bedeutet das aber? Wenn wir an ein Geschenk denken, haben wir natürlich vor allem etwas im Sinn, das wir uns gewünscht haben, über das wir uns als Beschenkte freuen. Allerdings wird das Geschenk selbst im Moment des Schenkens zum Besitz des Empfänger. Ein Geschenk kann auch weitergegeben werden, zum Beispiel, wenn es zwar wertvoll ist, aber dem Besitzer nicht mehr gefällt. Shekibas Name bedeutet "Geschenk" und genau so wird sie auch behandelt. Ihre "Besitzer" wechseln und nicht jeder Beschenkte geht sorgsam mit ihnen um. Es ist schon erstaunlich, wie ein so freundlicher Name zum Ausdruck von so schrecklichen Lebensumständen werden kann.

 

Facts zur Autorin

 


 
 

 

 

 

 

  

 

Nadia Hashimi (© Fotograf Chris Carter) 

Nadia Hashimi wurde in New York geboren, ihre Familie stammt aus Afghanistan. Sie studierte Mittelost-Studien, Biologie und Medizin. Nach dem Studium schrieb sie ihren ersten Roman „Hinter dem Regenbogen“, der sich mit der Heimat ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzt. Die Autorin lebt heute mit ihrer Familie in Maryland und praktiziert dort im Hauptberuf als Kinderärztin.

 

Weitere Bücher der Autorin:

Wenn die Nacht am hellsten ist. Übersetzt von Ulrike Werner-Richter. Bastei Lübbe Verlag 2017

Das Licht von vierzig Monden. Übersetzt von Britta Evert. Bastei Lübbe Verlag 2018

 

Weitere Autorinnen aus Afghanistan

Nadia Anjuman

Fariba Nawa

Parwin Pazwak

Aziza Rahimzada

 

Angemerkt

Sehr gern hätte ich auch etwas von Nadia Anjuman gelesen. Sie hat nur einen einzigen Gedichtband vollenden können, bevor sie bei einem Streit von ihrem Mann tödlich verletzt wurde.

Gul-e-dodi (Dunkle Rote Blüte) heißt ihr Werk. Leider gibt es ihre Poesie weder in deutscher noch in englischer Übersetzung. 

Nur einige wenige Gedichte sind in der Sammlung Load poems like guns. Women’s poetry from Herat, Afghanistan. nachzulesen (Erschienen bei Holy Cow! Press).  

 

Links zur Autorin

https://buechergebrabbel.blogspot.com/2017/02/rezension-nadia-hashimi-hinter-dem.html

 

Links zum Thema

https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-gewalt-frauen-101.html

https://www.spiegel.de/politik/ausland/humans-rights-watch-frauen-in-afghanistan-leiden-wie-unter-taliban-a-824129.html#:~:text=Trotz%20Nato-Einsatz%20Afghanistans%20Frauen%20leiden%20wie%20unter%20den,herrschten.%20Der%20Westen%20hat%20das%20Thema%20l%C3%A4ngst%20aufgegeben.

https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenrechte_unter_den_Taliban

https://www.tagesschau.de/ausland/usa-taliban-ghani-103.html

https://www.spiegel.de/politik/ausland/frauen-in-afghanistan-gesetz-regelt-sexualverkehr-mit-ehemaennern-a-617118.html

https://apps.derstandard.de/privacywall/story/2000119376698/bekannte-frauenrechtlerin-in-afghanistan-ueberlebte-attentat

https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/so-liebt-afghanistan-liebe--was-ist-das--3531154.html

 

 


Kommentare

  1. Kein leichtes Start mit Afghanistan. Aber eine echte Entdeckung. Bisher kannte ich nur Khaled Hosseini, schön nun eine afghanische Autorin zu lesen. Beeindruckend die Story und die Charaktere und die beiden verwoben Erzählstränge. Und dass trotz der extrem schwierigen Lebensumstände die Stärke der Frauen im Vordergrund steht und Hoffnung bestehen bleibt

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    1. Liebe Meliha,
      vielen Dank für Deinen freundlichen Kommentar.

      Tatsächlich ist es in Bezug auf viele Länder gar nicht so einfach, in Erfahrung zu bringen, welche Autorinnen dort überhaupt arbeiten. Und auch die Frage, ob gute Übersetzungen ins Deutsche oder Englische vorhanden sind, schränken die Möglchkeiten natürlich sehr ein. Insofern bin ich auch sehr froh, dass ich für den Anfang meines Blogs ein so schönes Buch gefunden habe.
      Liebe Grüße
      Ruth Omphalius

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