Und schon erreiche ich mein zweites Reiseziel:
Ägypten
Heute steht auf dem Programm:
Basma Abdel Aziz: Das Tor. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Heyne, 2020
Originaltitel: الطابور (aṭ-Ṭābūr), 2013
Im Deutschen ist Basma Abdel Aziz Werk unter dem Titel Das Tor erschienen und tatsächlich geht es in dem Roman um ein riesiges Tor, das nie geöffnet wird. Es ist ein Hindernis, das Schicksale verändert, über Leben und Tod entscheidet, Menschenmengen davon abhält, ihren normalen Alltag zu leben.
Der englische Titel lautet The Queue (Die Warteschlange). Ich hatte diesen Band schon einige Zeit bevor die deutsche Übersetzung herauskam -
und dieser Titel gefällt mir sogar noch etwas besser. Denn mehr als um das
Hindernis selbst geht es um das Leben in der Warteschlange davor – um die
Menschen, ihre Hoffnung, dass alles besser wird, wenn man nur durch das Tor
gelangen, zu den Regierenden durchdringen und den einzigen Stempel oder die
einzige Unterschrift erlangen könnte, mit der das Leben endlich wieder
außerhalb der Schlange weitergehen kann. Ich habe das Buch jetzt noch einmal während des Lockdowns gelesen und konnte mich umso besser mit den Wartenden identifizieren. Dadurch erhielt ich ein ganz anderes Verständnis für die haarsträubenden Ereignisse, die den Menschen in der Schlange widerfahren (Versuchen Sie mal einen Impftermin zu vereinbaren...)
Im Mikrokosmos der Warteschlange trifft man alle Arten von Menschen, die ewigen Drängler; solche, die aus der Situation Kapital schlagen wollen, Betrüger und sogar Mörder - aber auch solche, die Anteil nehmen und helfen.
Das Wort kafkaesk wird ja mittlerweile ziemlich inflationär für jeden kleinen Widerstand genutzt, den der Protagonist eines Buches überwinden muss. Wenn man allerdings als Leserin mit dem verletzten Yahya, dessen Leben vor dem Tor verrinnt, in der Warteschlange festsitzt und gegen ein korruptes System anlaufen muss, fühlt man sich der Willkür einer Obrigkeit tatsächlich so ausgeliefert wie in Kafkas Prozess.
Der Stil der Autorin ist von anderen Rezensenten gelegentlich als umständlich oder weitschweifig kritisiert worden. Ich bin der Meinung, dass die Form den Inhalt hier wirklich unterstützt. Das Buch würde sicher weniger eindringlich wirken, wenn wir als Lesende nicht gezwungen wären, die Irrungen und Wirrungen auch sprachlich mitzuerleben. Becketts „Warten auf Godot“ hätte in einer gestrafften Form sicher auch nicht die gleiche einprägsame Wirkung.
Leseprobe:
Yahya stand in der sengenden Hitze inmitten der Warteschlange, die sich vom Beginn der breiten Straße bis zum Tor erstreckte. In einer geschlagenen Stunde hatte er sich nur zwei Schritte vorwärts bewegt, aber nicht etwa, weil einer der Wartenden sein Anliegen erfolgreich zu einem Abschluss gebracht hatte, sondern weil eine Person, die zum ersten Mal zum Tor gekommen zu sein schien und noch keine Erfahrung hatte, von Überdruss und Verzweiflung gepackt, ihren Platz verlassen hatte.
Die Sonne brannte auf seine linke Körperhälfte und teilte ihn, wie mittags immer, in zwei Hälften. Sein Körper fühlte sich schwer an, doch Yahya gab seinen Platz nicht auf. Vor ihm stand eine groß gewachsene Frau, die sich immer wieder umsah. Sie trug einen dünnen schwarzen Dschilbab und hatte ein schwarzes Tuch auf dem Kopf, das ihr zu beiden Seiten des unbedeckten Halses in Falten hinunterhing und mit ihren Hautfalten und Runzeln harmonierte. Der junge Mann, der hinter Yahya stand, fragte, wann das Tor öffnen würde. Yahya zuckte nur mit den Schultern, um seine Ahnungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen, zog die Lippen in die Breite und sagte kein einziges Wort. Er wusste wirklich nicht, wann das geschehen würde. Noch immer verließ er jeden Morgen das Haus und schleppte seine Füße, seinen Bauch und sein schweres Becken vorwärts, um sich in die Schlange zu stellen, ohne das Tor je zu erreichen.
S. 17
Facts zur Autorin:
Basma Abdel Aziz
© privat
Basma Abdel Aziz ist Schriftstellerin, Journalistin, Künstlerin, Psychiaterin und Menschenrechtsaktivistin. Ihre Kritik an der ägyptischen Regierung und ihr Kampf für die Menschenrechte haben ihr den Spitznamen „die Rebellin“ eingebracht. Das Tor ist ihr Debutroman und wurde in viele Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.
Weitere Bücher der Autorin:
Belletristik
عشان ربنا يسهل (ʿAšān rabbunā yusahhil, Kurzgeschichten, 2007) – dt. Möge Gott es leicht machen
هنا بدن (Hunā badan, Roman, 2018) – dt. Hier ist ein Körper
Sachbücher
ما وراء التعذيب (Mā warāʾa t-taʿḏīb, 2007) – dt. Jenseits der Folter
إغراء السلطة المطلقة: مسار العنف في علاقة الشرطة بالمواطن عبر التاريخ (Iġrāʾ as-sulṭa al-muṭlaqa: masār al-ʿunf fī ʿalāqat aš-šurṭa bi-l-muwāṭin ʿabra t-tārīḫ, 2009) – dt. Die Versuchung der absoluten Macht
ذاكرة القهر: دراسة حول منظومة التعذيب (Ḏākirat al-qahr: dirāsah ḥawla manẓūmat at-taʿḏīb, 2014) – dt. Erinnerung an Unterdrückung: Eine Studie über das Foltersystem
سطوة النص: خطاب الأزهر وأزمة الحكم (Saṭwat an-naṣṣ: ḫiṭāb al-Azhar wa-azmat al-ḥukm, 2016) – dt. Die Macht des Textes: Die Rede von Al-Azhar und die Krise der Regierungsführung
Weitere Autorinnen aus Ägypten:
Miral al-Tahawy (Miral Mahgoub)
Radua Ashur
Salwa Bakr
Nawal El Saadawi
Mansoura Ez-Eldin
Alifa Rifaat
Jehan Sadat
Durrīya Schafīq
Ahdaf Soueif
Fundsache
Vor einem Tor in einer Schlange scheint auch die Frauenbewegung Ägyptens zu stehen. Folgender Artikel fasst die Situation sehr gut zusammen:
Ägypten: Die Revolution der Frauen | ZEIT ONLINE
Links zur Autorin:
Links zum Buch
https://www.welt.de/kmpkt/article207453037/Rezension-Das-Tor-Wenn-Buerokratie-toetet.html
Links zum Thema:
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