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Albanien

 


 

 

 

 

 

 

Heute führt mich mein Leseabenteuer nach Albanien. Schon einen ganzen Monat dauert meine literarische Reise an und bereits diese ersten Bücher haben mich emotional ganz schön durchgeschüttelt - aber auch meinen Blick geweitet. Und es geht gleich extrem weiter. Für Albanien habe ich mir folgendes Buch ausgesucht:

Elvira Dones: Hana. Übersetzt von Adrian Giacomelli und Hans-Joachim Lanksch. Ink Press 2016



 

        

 

 

 

 

 

 

 

Das Original ist zunächt in albanischer und italienischer Sprache  erschienen:

Hana. Sejko Publishing House, Elbasan 2007 und

Vergine giurata. Feltrinelli, Mailand 2007

Wahrscheinlich kennen einige von Euch das Buch (oder den Film) unter dem englischen Titel Sworn Virgin, den ich im Übrigen auch aussagekräftiger finde, als den neutralen deutschen Titel Hana. Der Vorname allein ist zwar schön und spiegelt die Person, um die es geht in aller Schlichtheit, wenn man das Buch bereits kennt. Aber er enthält kein eindeutiges Leseversprechen, wenn man nur zufällig auf das Buch stößt. Dahinter könnte sich alles verbergen - von der Depressiven bis zur Topspionin, von der geplagten Hausfrau bis zum Erotikstar. 

Tatsächlich gibt es in der deutschen Sprache eine ganze Reihe von Begriffen für das Phänomen, das hier beschrieben wird. Was eigentlich merkwürdig ist, legt es doch nahe, dass darüber schon vor Dones ein Interesse bestanden haben muss. Mir war bisher allerdings völlig unbekannt, dass es so etwas wie eine Eingeschworene Jungfrau, geschworene Jungfrau, Schwurjungfrau oder albanische Mannfrau als Instiution gegeben hat, bzw. im Einzelfall sogar immer noch gibt. 

All diese Bezeichnungen sind natürlich als Begriffe nicht unproblematisch, trotzdem wäre mir das Buch sicherlich wesentlich früher aufgefallen, wenn der Titel auf den außergewöhnlichen Inhalt hingewiesen hätte. Tatsächlich habe ich zunächst nur die englische Ausgabe wahrgenommen und dann später erst für diesen Blog geprüft, ob es Sworn Virgin auch in deutscher Übersetzung gibt.

Rezension

Die Geschichte könnte ihren Lauf nehmen, wie so viele andere. Die junge Studentin Hana liebt Gedichte und träumt von der Liebe. Es gibt genug junge Männer, die sich für sie interessieren, und natürlich auch den einen, für den sie Gefühle entwickelt. Ein glückliches Happy End ist quasi schon in Sicht. Aber dann kommt alles doch ganz anders.

Tante und Onkel, bei denen Hana nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen ist, haben schwere gesundheitliche Probleme. Die Tante stirbt schließlich und der Onkel kämpft mit Krebs im Endstadium.

Damit Hana als Frau nicht allein zurückbleibt, wenn der Onkel stirbt, besteht er zunächst darauf, sie zu verheiraten. Wölfe bedrohen alleinstehende Frauen, das alte Bild für Vergewaltiger wird heraufbeschworen.

Doch Hana weist die „Schutzmaßnahme“ Heirat zurück, sie will selbstbestimmt leben. Bei den Bergbewohnern Albaniens gibt es für Frauen eine besondere Möglichkeit, dieselben Rechte wie Männer zu erlangen: Sie müssen in die Rolle eines Mannes schlüpfen und schwören, ihr Leben lang Jungfrau zu bleiben.

Die „geschworenen Jungfrauen“ arbeiten in Männerberufen und erhalten alle Vollmachten, über die eine Mann verfügt - und denselben Lohn. Sie kleiden sich als Männer und müssen genauso respektvoll behandelt werden wie diese.

Um für ihren Onkel sorgen und den Bauernhof der Familie bewirtschaften zu können, wird Hana zu Mark. Sie steht ihren „Mann“ und kämpft sogar als Soldat. 

Nach dem Tod des Onkels, wandert sie jedch nach Amerika aus und versucht, zu ihrer Weiblichkeit zurückzufinden.

Ich muss zugeben, ich habe das Buch nicht aus der Hand legen können. Natürlich haben schon viele Autoren der Weltgeschichte sich darum bemüht zu erfassen, wie viel „Männliches“ denn in einer Frau steckt und wieviel „Weibliches“ in einem Mann – und was denn das eine und das andere überhaupt sein könnte. 

Zwei Dinge sind in diesem Buch allerdings völlig anders als in anderen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Erstens ist der Rollenwechsel, den Hana mitmacht, nicht das Gedankenspiel eines Dichters, sondern offenbar notwendige Realität in einer Gesellschaft, in der es wichtig ist, dass Söhne für ihre Eltern sorgen. In der Not werden einer Frau also die Privilegien eines Mannes gegeben, wenn diese die Pflichten eines Mannes übernimmt.

Der zweite interessante Punkt ist die Bedingung der Jungfräulichkeit. Ganz offensichtlich soll in dieser Gesellschaft die traditionelle Rollenverteilung unbedingt beibehalten werden. Eine Jungfrau kann Besitz haben und verwalten, aber nicht vererben. Sie ist die Notlösung, wenn es keine Alternative gibt.

Ich frage mich, ob eine Jeanne d’Arc wohl die Massen so begeistert hätte, wenn sie keine Jungfrau gewesen wäre. Auch sie ist ja, wenn man so will, eingesprungen, als nichts mehr ging.

Der vorliegende Band ist wirklich interessantes Werk, an dem man durchaus noch etwas länger herumdenken kann.

Vielleicht zum Schluss noch eine Anmerkung zum deutschen Cover. Ich hatte ja schon angesprochen, dass mich der Titel nicht wirklich zum Inhalt geführt hat. Bei dem Cover ist es mir ganz ähnlich ergangen. Auch die triste Hochhausfassade lässt Platz für alle möglichen Assoziationen, gibt aber keinen wirklichen Hinweis auf den Inhalt des Buches. Die englische Ausgabe punktet hier mit zwei X-Chromosomen, die zumindest schon mal signalisieren, dass es irgendwie um Frauen geht. Insgesamt glaube ich aber, dass es so oder so noch bessere Möglichkeiten geben müsste, diesem wichtigen Buch, ein Gesicht zu geben.

 

Leseprobe

Keinen Ehemann, hast du verstanden? Ich lehne jeden ab. Wenn übermorgen der Zwischenhändler kommt, laufe ich davon. Ich will nicht heiraten und einem Mann gehorchen müssen, ihm noch die Füße waschen. Ich lasse mich nicht versklaven.

 

Wort: Malokë 

Eigentlich handelt es sich bei dem Begriff um eine abfällige Bezeichnung über die Bergbevölkerung Albaniens. Die Bergbewohner selbst benutzen den Begriff jedoch eher im Scherz oder sogar liebevoll als Kosewort.

 

Facts zur Autorin:

Elvira Dones 

Copyright Ink Press

Elvira Dones wurde in der albanischen Hafenstadt Durrës geboren. Wie Hana begann sie schon während der Schulzeit zu schreiben. An der Universität Tirana studierte sie albanische Literatur und Anglistik.1988 war sie für das staatliche Fernsehen tätig und durfte in dieser Funktion das Internationale Filmfestival von Mailand besuchen. Sie entschloss sich spontan zu fliehen und folgte ihrem späteren Ehemann in die Schweiz. In Albanien verurteilte man sie deswegen in Abwesenheit wegen Landesverrat zu einer Gefängnisstrafe. Dones arbeitet heute als Schriftstellerin und Fernsehjournalistin in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten. Einer ihrer bedeutendsten Dokumentarfilme befasst sich ebenfalls mit dem bis dahin eher unbekannten Phänomen der „Sworn Virgin“.

 

Preise

Sonderpreis der Jury beim „Prix Littéraire des Jeunes Européens“ 2016 für „Une petite guerre parfaite.“

Auszeichnung des englischen P.E.N. für die englische Übersetzung „Sworn Virgin“.

 

Weitere Bücher der Autorin:

Verbrannte Sonne. Übersetzt von Florian Kienzle. Ink Press Verlag, Zürich 2020

Piccola guerra perfetta. Einaudi, Turin 2011

Kleiner sauberer Krieg. Ink Press Verlag, Zürich 2018

Une petite guerre parfaite. Métailié, Paris 2013

Luftë e vogël e përkorë. Dudaj Publishing House, Tirana 2012

Zaprzysiezona dziewica. DodoEditor Publisher, Krakau 2010

Hana. Sejko Publishing House, Elbasan 2007

Më pas heshtja. Sejko Publishing House, Elbasan 2004

I mari ovunque. Interlinea, Novara 2007

I Love Tom Hanks. Kurzgeschichten, Sejko Publishing House, Elbasan 2002

Ditë e bardhë e fyer. Sejko Publishing House, Elbasan 2001

Bianco giorno offeso. Interlinea, Novara 2004

Yjet nuk vishën kështu. Sejko Publishing House, Elbasan 2001

Soleil brûlé. Editions Anne Carrière, Paris 2005

Sole bruciato. Feltrinelli, Mailand 2001

Lule të gabuara. Kurzgeschichten, Onufri, Tirana 1999

Kardigan. Çabej, Tirana 1998

Dashuri e huaj. Çabej, Tirana 1997

Senza bagagli. Besa, Lecce 1998

 

Angemerkt

Das neue Buch von Elvira Dones "Verbrannte Sonne" ist auf jeden Fall auch lesenswert. Hier geht es um den Frauenhandel, der von der Albanischen Mafia in den 90er Jahren organisiert wurde. Die Autorin erzählt aus der Sicht der geraubten und verkauften Frauen, dadurch wird die ganze Brutalität des Menschenhandels deutlich. In Albanien hat das Werk bereits heftige Diskussionen ausgelöst. Hier wird es, wie ich finde zu unrecht, noch nicht so breit wahrgenommen.

Elvira Dones: "Verbrannte Sonne" | rbbKultur (rbb-online.de)


Weitere Autorinnen aus Albanien

Mimoza Ahmeti

Lindita Arapi

Manjola Brahaj

Maria Antonia Braile

Flora Brovina

Ledia Dushi

Helena Kadare

Jolanda Kodra

Musine Kokalari (Gilt als erste Frau, die in Albanien ein Buch veröffentlicht hat.)

Luljeta Lleshanaku

Ornela Vorpsi

Anila Wilms

 

Links zur Autorin

https://www.elviradones.com/

 

Links zum Buch

https://www.woz.ch/-7f09

 

Links zum Thema

https://de.wikipedia.org/wiki/Eingeschworene_Jungfrau

http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Schwerpunktthemen/Schwerpunktthemen_2004/Ethnologische_Geschlechterforschung/Frauen_in_Maennerrollen/index.phtml

https://petapixel.com/2012/12/26/portraits-of-albanian-women-who-have-lived-their-lives-as-men/

http://www.pepahristova.com/sworn-virgins/1/

https://www.welt.de/wams_print/article2158074/Jungfrauen-die-Maenner-wurden.html

https://jungle.world/artikel/2017/37/der-albanische-jungfrauenzirkus

 

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