Ihr Lieben,
meine Lesereise geht schon in den zweiten Monat. Wahnsinn! Das nächste Leseziel ist Algerien.
Hier gibt es mehrere interessante Autorinnen zu entdecken. Meine Wahl fiel auf
Assia Djebar: Oran Algerische Nacht. Übersetzt von Beate Thill. Unionsverlag Taschenbücher. 2003
Originaltitel: Oran, langue morte. 1997
Das Werk ist zwar schon älter, aber die Autorin beschwört so intensive Szenen herauf, dass ich mich einfach für eines ihrer Werke entscheden musste.
Der Roman fordert beim Lesen wirklich die gesamte Aufmerksamkeit. In einzelnen Episoden erzählt Assia Djebar über das Leben in Oran, der zweitgrößten Stadt Algeriens. Einige Geschichten spielen in der Nacht und handeln davon, was im Dunkeln geschehen kann: Massenbeerdigungen, Gedanken an verbotene Liebe, Morde oder einfach der Versuch, sich wenigstens in der Stille der Nacht irgendwie normal und unbeobachtet zu fühlen.
Ich hatte beim Lesen ein bisschen das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen, den jemand mit Wucht zerschlagen hat. Ich sah das große Ganze nur in Bruchstücken vor mir liegen. Manche Teile sind noch im Verbund und man erkennt sofort, dass sie mit anderen zusammengehören. Von anderen findet man den Platz erst später und anders als bei einem Puzzle sind sie scharfkantig und schneiden den Leser. Am Ende muss man sich mit den Scherben abfinden.
Die Form des Erzählens spiegelt den Inhalt in außergewöhnlicher Weise, schließlich geht es um das Leben in den Zeiten des Terrors. Es ist interessant, wie unterschiedlich frühere Rezensenten diesen Roman wahrgenommen haben. Für manche geht es vor allem um die Zerrissenheit Algeriens, hervorgerufen durch den Algerienkrieg und die Kriegsverbrechen Frankreichs. Für andere stehen der Bürgerkrieg oder der Islamismus im Vordergrund. Interessanterweise spielt in den Rezensionen häufig die einzige Episode eine Rolle, in es einen männlichen Protagonisten gibt, der aber immerhin das Leben seiner ungewöhnlichen Mutter erzählt.
Dabei scheint es mir der Autorin gar nicht so sehr darum zu gehen, welches historische Datum der Kalender zeigt oder welche Regierung gerade an der Macht ist, sondern um die Beobachtung, dass sich intelligente, selbständige, gut ausgebildete Frauen in Oran als Beispiel für so viele Orte einfach nicht sicher fühlen können. Ganz gleich, wie viel Freiheit schon erkämpft oder zugestanden worden war; ganz gleich auch, wie fortschrittlich die äußeren Umstände wirken - mit Entsetzen, aber mehr noch mit größtem Erstaunen müssen die Frauen immer wieder feststellen, wie schnell all ihre Rechte wieder verloren gehen können.
Leseprobe:
»Sie sind Aryka F., angeblich Gymnasiallehrerin, aber offenbar erzählen Sie diesen jungen Leuten obszöne Geschichten?«
»Wer sind sie? «, erwiderte die Lehrerin mit bebender Stimme und einem fragenden Schulterzucken. »Wie kommen Sie dazu, mit Waffen in meine Klasse einzudringen?«
Sie nähern sich alle vier dem Schreibtisch und umringen sie, sie steht noch immer da und mustert sie mit festem Blick.
Der Bucklige hat sich wie ein Tänzer oder ein Verrückter auf die erste Reihe der Schüler zubewegt und dabei sein Messer (ein Schüler wird sagen: »seinen Dolch«) rechts und links in die Höhe gereckt. Er kichert laut, er spricht sie im arabischen Dialekt der Stadt an:
»Na los, na los, ihr Küken, ihr Schwächlinge, macht die Augen zu, oder kriecht unter die Tische! Verschwindet! Ihr braucht nicht zuzuschauen, sie, die »Gymnasiallehrerin« (er sagt nur dieses Wort in einem verballhornten Französisch), ist die Verurteilte!«
Danach … Danach die Schreie, das Kreischen, die Körper am Boden. Einer der vier Männer postiert sich vor der Tür. Einer schießt eine kurze Salve in die Luft. Alle Schüler gehen zu Boden, unter die Tische, ein einziges Mädchen kreischt ununterbrochen, mit geschlossenen Augen, die Ohren mit den Fingern verstopft, begleitet sie das lange Martyrium von Atyka mit der schrillen Klage einer Wahnsinnigen, einer heulenden Katze …
Aufrecht an ihrem Schreibtisch stehend, erhält Atyka eine Kugel ins Herz Ihre gleichförmige Stimme, bebend im Protest, obwohl schon die erste Salve gefeuert wurde, die die Schüler in Deckung geschickt hat, kurz vor dem Schuss, der auf ihr Herz gerichtet ist, sagt noch: »Wie kommen Sie dazu, mit Waffen in meine Klasse einzudringen!«
S. 172
Facts zur Autorin:
Assia Djebar
Copyright Horst Tappe
Assia Djebar (eigentlich Fatima-Zohra Imalayène) war eine algerische Schriftstellerin, Regisseurin, Historikerin und Hochschullehrerin, die auf Französisch publizierte. Ihr Autorinnenname war Programm: Assia bedeutet Trost, und Djebbar Unnachgiebigkeit. Ihre Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden und sie gilt als eine der renommiertesten Autorinnen aus dem Maghreb. Sie war die ersten Algerierin und muslimischen Studentin an einer französischen Eliteuniversität
Preise
1962 Französischer Kulturpreis für Les enfants du nouveau monde ausgezeichnet.
1989 LiBeraturpreis für Die Schattenkönigin.
1995 Ehrendoktorwürde der Universität Wien
1995 Prix Maurice Maeterlinck (Brüssel).
1996 Neustadt International Prize for Literature für ihr Gesamtwerk (USA)
1997 Marguerite Yourcenar Prize (Boston)
1999 Médaille de Vermeil de la francophonie der Académie française
2000 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
2005 Pablo Neruda-Preis (Italien)
2006 Grinzane Cavour-Preis (Turin)
Für den Literaturnobelpreis war sie mehrfach im Gespräch, hat ihn aber leider nie erhalten.
Weitere Bücher der Autorin:
La soif. (Franz. 1957);
Die Zweifelnden. Heyne, München 1993. Durst. Neuübersetzung, Unionsverlag, Zürich 2002
Les impatients. (Franz. 1958);
Die Ungeduldigen. Scherzverlag, Bern/Stuttgart/Wien 1959. Heyne, München 1992. Unionsverlag, Zürich 2000
Les enfants du nouveau monde.
Die Kinder der neuen Welt (Franz. 1962)
Les alouettes naives.
Die naiven Lerchen (Franz. 1967)
Femmes d’Alger dans leurs appartement. (Franz. 1980);
Die Frauen von Algier. Erzählungen, Unionsverlag, Zürich 1999,
Algerisches Quartett:
I. L’amour, la fantasia. (Franz. 1985);
Fantasia. Unionsverlag, Zürich, 1993
II. Ombre Sultane. (Franz. 1987);
Die Schattenkönigin. Unionsverlag, Zürich, 1991
III. Vaste est la prison. (Franz. 1995);
Weit ist mein Gefängnis. Unionsverlag, Zürich, 1997
Band IV. Der vierte Band ist nicht erschienen. Das Algerische Quartett blieb unvollendet.
Loin de Médine. (Franz. 1991);
Fern von Medina. Unionsverlag, Zürich 1994
Le blanc d’Algérie. (Franz. 1996);
Weißes Algerien. Unionsverlag, Zürich 2002
Les nuits de Strasbourg. (Franz. 1997);
Nächte in Straßburg. Unionsverlag, Zürich 1999
La femme sans sépulture. (Franz. 2002);
Frau ohne Begräbnis. Unionsverlag, Zürich 2003
La disparition de la langue francaise. (Franz. 2003);
Das verlorene Wort. Unionsverlag, Zürich 2004
Nulle part dans la maison de mon père. (Franz. 2007);
Nirgendwo im Haus meines Vaters. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. (Autobiografische Erzählung bis z. 17. Lebensjahr)
Weitere Autorinnen aus Algerien:
Yasmine Amar (Leila Hacène)
Taos Amrouche (Marguerite Taos Amrouche oder Marie-Louise Taos Amrouche)
Latifa Ben Mansour
Maïssa Bey (Samia Benameur)
Fatima Gallaire
Leila Marouane
Ahlam Mosteghanemi
Leïla Sebbar
Infobox:
Nach Erlangung der Unabhängigkeit 1962 galt Algerien als eines der modernsten Länder der arabischen Welt. Die Frauen hatten, ebenso wie die Männer, mit Waffen gegen die französischen Kolonialherren gekämpft. Das brachte ihnen zunächst Ansehen und damit verbunden Zugang zu Bildung und Berufstätigkeit ein. Nur wenige Frauen verhüllten sich bis in die 1980er Jahre. Heute sehen sich Algeriens Frauen dem Druck einer patriarchalen Gesellschaft ausgeliefert, die zumindest versucht, sie zum Tragen eines Schleiers zu verpflichten und nach Möglichkeit aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.
Links zur Autorin:
https://www.deutschlandfunk.de/ein-radioportraet.700.de.html?dram:article_id=79940
https://www.fr.de/kultur/literatur/eine-frau-frei-sein-11688767.html
https://www.nzz.ch/articleE8XUP-1.43379
https://www.zeit.de/2009/49/L-B-Djebar
http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=12
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/schattenstimmen-der-schattenfrauen
https://www.nzz.ch/article7OWOI-1.485760
Links zum Thema:
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Algerien/frauen.html
https://www.n-tv.de/politik/dossier/Gewalt-gegen-algerische-Frauen-article891841.html
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