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Armenien

Ihr Lieben,

wenn man sich mit der armenische Literatur beschäftigt, ist das Thema Genozid allgegenwärtig. Ich habe lange überlegt, welches Buch ich aus diesem Land lesen möchte, und mich schließlich für ein älteres Werk entschieden. Der Grund dafür ist, dass in diesem Roman eine Augenzeugin zu Wort kommt, die die Verfolgung und Vertreibung 1915 miterlebt hat. Selbst wenn sie diese ihre Erinnerungen nicht selbst aufgeschrieben hat, sondern ihre Tochter, erschien mir das Buch als erste literatischer Berührung mit dem Thema näherliegend als spätere Reflexionen. 

 

Armenien


 

 

 

 

 

Margaret Ajemian Ahnert: The Knock at the Door: A Mother's Survival of the Armenian Genocide. 2007

 


 

 

 

 

 

 

 

Rezension

Margaret Ajemian Ahnert beschreibt in "The Knock at The Door" die Flucht ihrer Mutter Ester aus Armenien. Ester war erst 15 Jahre alt, als ihre Familie von beängstigenden Neuigkeiten überrascht wird. Ihr älterer Bruder, der in der türkischen Armee dient, warnt die Adoptiveltern, bei denen Ester aufwächst, schnellstmöglich auszuwandern. Doch der Vater kann sich nicht vorstellen, dass die  türkische Regierung die Armenier zum Islam bekehren, ihre Sprache verbieten oder die Menschen aus dem Land vertreiben möchte. Der Kontakt zu den türkischen Nachbarn ist gut, er hat türkische Freunde und Geschäftspartner. So schlimm kann es doch gar nicht werden.

Ester erfährt nur wenig darüber, was vor sich geht. Sie lebt in einer Blase der Desinformation bis die Gewalt auch sie erreicht. In der Stadt sieht sie auf dem Heimweg von der Schule, wie ein junger Mann gehenkt wird. Niemand spricht darüber. Selbst als die Kirche des Ortes mit einer großen Anzahl von Gläubigen darin niedergebrannt wird, gibt sich die Familie der Illusion hin, nicht betroffen zu sein.

Schließlich ist es aber soweit: Der Vater wird abgeholt und wenige Tage später vertreiben Soldaten die restliche Familie aus dem Haus. Ester verliert während des folgenden Gewaltmarsches, der Gerüchten zufolge in ein Vernichtungslager führen soll, zunächst all ihre Habseligkeiten und dann nach und nach ihre Familienmitglieder.  

Oft nur durch Zufall übersteht sie Übergriffe durch die Soldaten, Raubzüge kurdischer Gruppen, Krankheit, Hunger und Verletzungen. Mehrfach ist sie dem Tode nahe. Immerhin gibt es auch Menschen, denen Ester Rettung aus größter Not verdankt. Eine Frau pflegt sie unter dem Einsatz des eigenen Lebens gesund als sie tot geglaubt in einen Fluss geworfen werden sollte. Doch damit ist die Irrfahrt der Armenierin noch lange nicht zu Ende. Bevor Ester schließlich die Ausreise in die USA gelingt, wird sie in eine Waisenhaus gesteckt, vergewaltigt und gegen ihren Willen verheiratet.

Wenn Ihr jetzt denkt, von all diesem Leid möchte ich vielleicht gar nichts lesen. Vor allem jetzt in der Pandemie ist man ja selbst von viel Bedrohlichem umgeben, da bräuchte man eigentlich eher etwas Positives, eine Auszeit. Ich muss zugeben, auch mir gingen diese Gedanken durch den Kopf. Ich vermute, ich habe da Buch zunächst etwas verkrampft in die Hand genommen. Dann aber passiert erstmal etwas völlig anderes. 

Die Leserin lernt Esters heutige Lebensumstände kennen. Sie ist in einem armenischen Seniorenheim untergebracht und ihre Tochter besucht sie und führt lange Gespräche, aus denen dann das Buch geworden ist. Normalerweise finde ich solche Rahmenhandlungen schwierig. All zu oft habe ich das Gefühl, dass ein Sohn oder eine Tochter sich zu sehr in der Vordergrund spielt oder sich als Instanz zwischen die eigentliche Protagonistin/den Protagonisten und die Leserin drängt, zu viel filtert und interpretiert. 

Auch in diesem Fall stören mich einzelne Passagen, wenn die Autorin über DNA und Blutsbande spekuliert. Aber im Großen und Ganzen hilft die Rahmenhandlung dabei, die eigentliche Geschichte besser zu verarbeiten. Es tut zwischendrin ganz gut, die Protagonistin als alte Dame zu erleben. Zunächst einmal signalisieren diese Sequenzen ja, dass Ester überlebt hat und 98jährig immer noch geistig fit die Welt mit einem gewissen Schalk kommentiert. Das macht die Katastrophe nicht kleiner, hilft aber beim Durchhalten dieser Lektüre.

Natürlich hat auch die Beschreibung des Heimlebens seine eigene Tragik, besonders weil die Bewohner sich je älter sie werden, immer mehr an die Zeit "davor" erinnern. Alte Lieder werden gesungen, Tänze getanzt, von Essensspezialitäten geschwärmt und längst vergangene Orte gepriesen. Es ist eine viel leisere Klage, aber trotzdem intensiv, wenn ein Mensch nicht dort seinen Weg zu Ende bringen darf, wo er ihn begonnen hat, wenn er das möchte.

Dieses Werk hätte aus meiner Sicht längst auch eine deutsche Ausgabe verdient. Noch immer besteht ja deutlich Diskussionsbedarf zum Thema armenischer Genozid. Die Fakten liegen längst nicht alle auf dem Tisch und nicht nur die Türkei hält sich mit der Veröffentlichung von historischen Dokumenten zurück. 

Ganz interessant fand ich auch die Überlegung, die die Autorin in ihrem Prolog anstellt: 

>>Als ich in Louis Lochners Buch What about Germany folgendes las, wurde ich aufmerksam: "1939 antwortete Adolf Hitler als er danach gefragt wurde, ob er wirklich alle Männer, Frauen und Kinder in Polen töten wolle: "Wer spricht denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?' " Dieses Zitat ist an prominenter Stelle im United States Holocaust Memorial in Washington, D.C. ausgestellt. ...

Wenn die Welt 1915 den Wahnsinn gestoppt hätte, hätte es dann 1942 womöglich keinen Holocaust gegeben?<<

 

 

Leseprobe

Morgens, nachdem wir drei Stunden gelaufen waren, griffen die Soldaten die langsam wandernde Karawane von Neuem an. Diesmal nahmen sie uns unsere Vorräte und unsere Wagen. Wir rannten inmitten der fliehenden Körper, denn die Leute, die an den äußersten Rändern der Menge liefen, wurden von den Soldaten zu Pferd umgestoßen und niedergetrampelt. Großmutter hörte nicht auf, mich weiter ins Zentrum der Menge zu schubsen, wenn ich ein wenig abdriftete. Arsen hielt meine Hand ganz fest und Vartouhi hatte Mühe mitzukommen. Wir folgten drei Tage und drei Nächte dem Weg. Alles, was wir zu essen hatten, war eine wenig „Cheoreg“, das die Großmutter noch in ihrer Tasche hatte. Sie brach es in drei Teile, einen für Vartouhi, einen für Arsen und einen für mich. Sie selbst nahm keinen.

Wir waren etwa hundert in unserer Gruppe. Vor uns lief eine andere, die etwas größer war und hinter uns eine dritte mit ungefähr genau so vielen Menschen. Einige flüsterten, dass unser Ziel ein Todeslager in der Wüste von Der-el-Zor sei. Es gab Gerüchte, dass nur die Stärksten den Weg zum Todeslager schafften. Die meisten würden bereits unterwegs sterben. Zum ersten Mal machte ich mir Sorgen, ob wir es überhaupt bis Der-el-Zor schaffen würden oder ob wir zu denen gehören würden, die schon vorher starben.

 

Wort

Im Buch gibt es eine letzte Essensreserve namens „Cheoreg“, das ein paar Flüchtlinge miteinander teilen. Rein vom Klang her hätte ich auf etwas Scharfes oder Salziges getippt – wie eine geräucherte Wurst oder sonst etwas Herzhaftes. Natürlich lag ich mit meiner lautmalerischen Fantasie komplett falsch. „Cheoreg“ ist tatsächlich das armenische Osterbrot, ein feines Hefegebäck, dass meist in Zopfform gebacken wird. Eine Symbolik, die sich erst erschließt, wenn man sich die Mühe macht, den Begriff nachzuschlagen.

 

Facts zur Autorin:

Ein Foto findet Ihr auf ihrer Internet-Seite unten. Leider ist es mir nicht gelungen, ein rechtefreies zu bekommen.

Margaret Ajemian Ahnert ist Autorin, Dozentin und Producerin von TV- Dokumentationen. In ihrem berühmt gewordenen Roman „The Knock on The Door“ beschreibt sie die abenteuerliche Flucht ihrer Mutter vor dem Armenischen Genozid.

 

Preise

2007 „Best Book of 2007“, USA Book News

2008 New York Book Festival Preis in der Sparte "Best Historical Memoir"

2008 Musa Dagh Battle Ehrenmedaille

2011 Ellis Island Ehrenmedaille

 

Weitere Autorinnen aus Armenien

Narine Abgarjan

Marie Rose Abousefian

Anaïs

Heranush Arshakian

Louise Aslanian

Anush Aslibekyan

Sibil (Zabel Asadur)

Mari Beyleryan

Tatev Chakhian

Zaruhi Kalemkaryan (Yevterpe)

Sirward Barunaki „Silwa“ Kaputikjan

Violette Krikorian

Agapi Mkrtchian

 

Angemerkt

Einen ersten Überblick über die Lyrikerinnen Armeniens ermöglich die Sammlung:

The Other Voice: Armenian Women's Poetry Through The Ages. Übersetzt von Diana Der-Hovanessian. Taschenbuch. 2005

 

Links zur Autorin

http://margaretahnert.com/

 

Links zum Thema

https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Der-Volkermord-An-Den-Armeniern/der-volkermord-an-den-armeniern.html

 

https://www.geo.de/magazine/geo-epoche/3373-rtkl-osmanisches-reich-der-genozid-den-armeniern-ein-verleugnetes

 

https://www.welt.de/geschichte/article155928993/Acht-Fakten-zum-Voelkermord-an-den-Armeniern.html

 

 

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