Ihr Lieben,
an diesem Donnerstag geht die Reise nach
Aserbaidschan
Auf dem Bucheinband stehen heute zwei Männer, aber man soll ein Buch ja nicht nach dem Cover beurteilen...
Tatsächlich geht es in dem Band um die Prosa einer ganzen Reihe von teilweise sehr unterschiedlichen, aserbaidschanischen Schiftstellerinnen, deren Werke von besagten Herren der Lesewelt erstmals in englischer Sprache zugänglich gemacht wurden.
Vagif Sultanly, Iraj Ismaely (Hrsg.): Modern Azerbaijani Women’s Prose. 2014
Rezension
Diese Anthologie ist inhaltlich wie materiell kein
Leichtgewicht und kostet auch nicht wenig. Trotzdem möchte ich sie empfehlen,
weil man einen guten ersten Überblick über die weibliche Prosa Aserbaidschans der
vergangenen 30 Jahre bekommt. Die Autorinnen beschreiben, wie Frauen gravierende Umwälzungen erlebt haben, zum Beispiel den Niedergang der
Sowjetunion und die Befreiung Aserbaidschans. Man ahnt schon, dass die Befreiung genderspezifisch unterschiedlich wahrgenommen wurde. Die Themen stammen aus allen möglichen Bereichen der Gesellschaft und die Autorinnen repräsentieren durchaus unterschiedliche Lebensentwürfe.
Auch die vorgestellten Genres
sind vielfältig: Es gibt Episches, Philosophisches und Phantastisches zu entdecken. Sogar Lyrik hat ihren Weg in die Sammlung gefunden, obwohl der Titel ja eigentlich ausschließlich Prosa verspricht.
Wie so oft an die deutschen Verlage der Tipp: Hier gibt es noch was zu entdecken!
Um nicht ganz so allgemein zu bleiben, möchte ich wenigstens eine Geschichte genauer vorstellen. Sara Oghuz hat sie geschrieben und obwohl es um Liebe geht, beginnt und endet sie wie ein Krimi:
Eine Frauenleiche wird an den Strand geschwemmt. Alakbar, einer der wenigen Männer unter den späten Strandbesuchern, wird gedrängt, bei der Leiche zu bleiben, um hungrige Hunde von der Toten fernzuhalten. Er möchte eigentlich nur von diesem unheimlichen Ort flüchten, zumal er eine verstörende Vision hatte, als die Tote im Wortsinn ihr Lebenslicht aushauchte. Alakbar glaubte, eine leuchtende Kugel aufs Meer hinausfliegen zu sehen, die er für die Seele der Verstorbenen hielt.
Von den Ereignissen emotional durchgeschüttelt und schließlich ganz allein am Strand, glaubt er in der Toten die Frau wiederzuerkennen, die er einst liebte. Katya war eine hochintelligente Frau, die sich allen genderspezifischen Widrigkeiten zum Trotz und obwohl sie aus ärmlichen Verhältnissen stammte, Zugang zu Bildung verschafft hatte.
Alakbar erinnert sich, wie sehr sein Ego darunter gelitten hatte, dass Katya sich ihre ganz eigenen Gedanken über Kunst, Geschichte, Psychologie und Biologie machte. Er fand es irritierend, dass sie gern kletterte, die Namen aller Pflanzen kannte, die sie während ihrer Ausflüge sahen und noch ärgerlicher fand er, dass sie viel besser Muschelschalen über das Wasser springen lassen konnte als er.
Während eines Ausfluges verlor Alakbar die Geduld mit Katya und wurde handgreiflich in der festen Überzeugung, dass ihm körperliche Zuwendung nach all der Zeit der Werbung zustand. Die junge Frau wehrte sich empört und ging allein nach Hause. Angestachelt von den Reden seiner Mutter und dem von Kindheit an gepflegten Überlegenheitsgefühl des Mannes, entschuldigte er sich nicht oder nahm überhaupt je wieder Kontakt zu Katya auf. Er erwartete wie selbstverständlich, dass Katya auf ihn zugehen müsse, was nie geschah.
Erst am Strand mit der Leiche wird ihm wirklich klar, dass er sein ganzes Leben lang unbewusst nach Katya gesucht hat. Seit Ihrem Verschwinden verbrachte er seine gesamte Freizeit an Orten, die sie zuvor gemeinsam besucht hatten und bis heute gab er sich der Hoffnung hin, sie zufällig wiederzusehen. Als die Polizei schließlich am Strand eintrifft, stellt er sich überraschend als Mörder, was in den Folgetagen zu größter Verwirrung unter den anderen Augenzeugen führt, die genau wissen, dass Alakbar viele Meter entfernt am Strand lag, als die Tote weit draußen im Meer ertrank.
Sein falsches Geständnis an einem Mord, der so nicht stattgefunden hat, kann nur bedeuten, dass Alakbar für etwas andere bestraft werden möchte. Die Autorin wählt für ihre Geschichte eine verwirrende Perspektive. Sie als Frau, lässt die Leserin durch die Augen eines Mannes schauen und blickt wiederum auf eine Frau. Das führt zu merkwürdigen Emotionen beim Lesen. Teilweise möchten wir Alakbar in seiner grenzenlosen Arroganz und Ich-Bezogenheit schütteln, zugleich hat man Mitleid, weil die Geschichte ja auch für ihn tragisch ausgeht. Wir merken beim Lesen, wie einschüchternd offenbar weibliche Intelligenz, Wissen und ein eigener Wille auf einen triebgesteuerte jungen Mann wirken können. Katya selbst sagt einmal: "Du bist wie ein Kind. Du willst an der Hand gehalten und zu einem Spaziergang mitgenommen werden."
Alakbar hat im Grunde sein Leben zerstört, weil er es nicht schaffte, sich aus den tradierten Rollenklischees zu lösen. Festgefahrene Genderrollen können eben auch für Männer eine böse Falle sein. Das Angebot der Autorin, wie ein Happy End aus Alakbars Sicht hätte aussehen können, bleibt allerdings fest auf eingefahrenen Wegen. Alakbar wirft sich nicht etwas vor, dass er Katya nicht lieben konnte, wie sie war, sondern nur, dass er sie nicht geheiratet und vor der unausweichlichen Armut bewahrt hat. Nur die Ehe mit ihm wäre in seiner Vorstellung eine Alternative zu dem schrecklichen Schicksal eines Lebens in Not und dem traurigen Ende als Wasserleiche gewesen. Alakbar will am Ende also bestraft werden, weil er Katya nicht gerettet hat.
Ich bin nicht sicher, ob die Autorin das genauso sieht wie ihr Protagonist. Zwar suggeriert sie durch die Sichtung der Seele am Anfang und einen etwas aufgesetzten Verweis darauf, dass sowohl die Tote als auch Katya einen TBC-kranken Bruder hatten, dass die ärmlich gekleidete, von schwerer Arbeit gezeichnete Frau am Strand tatsächlich die einst so wundervolle, talentierte Katya war.
Andererseits bleiben die Indizien vage. Es gibt keine Papiere und Alakbar erkennt in den Gesichtszügen der Toten auch keine Ähnlichkeiten zu Katya. Die Leiche ist ganz klar der Auslöser für Gefühle, die lange unterdrückt waren. Und für Alakbar macht es im Grunde keinen Unterschied, ob Katya tot im Sand vor ihm liegt. Er trauert nicht wirklich um sie, sondern um eine verlorene Chance, eine Niederlage. Er hat als Retter, als Mann nicht funktioniert. Für den Mord an einer idealisierten Beziehung lässt er sich von der Polizei bestrafen.
Was Katya angeht, so bleibt ihre Geschichte letztlich offen. Natürlich könnte sie die Wasserleiche sein. So wie die Figur angelegt ist, bleibt allerdings durchaus ein Rest Hoffnung, dass die Frau ein erfülltes Leben als Archäologin, Psychologin oder Künstlerin geführt hat. Vielleicht befindet sich sich ja gerade an einem anderen Strand und sucht weiter nach den Erbauern von Atlantis wie in dieser Szene:
Leseprobe
Mit einer Hand zeigte sie zu dem Streifen Land, der weit ins Meer hinausreichte, mit der anderen fasste sie Alakbar an der Schulter und drehte sein Gesicht Richtung Pirallahi. Alakbar spürte Erregung als ihre Hand seine nackte Schulter berührte, aber er riss sich zusammen und versuchte, ihrem Gedankenfluss zu folgen.
"Der älteste Tempel der Feueranbeter war in Pirallahi. Da gab es eine ewige Flamme im Meer fast bis zur Zeit der Bolschewisten. Du musst dir nur die Bedeutung des Inselnamens klarmachen: Pir allah - der heilige Ort Gottes. Glaubst Du nicht, dass die Welt hier ihren Anfang genommen hat?"
Um ihr deutlich zu machen, dass er an theoretischen Diskussionen nicht interessiert war, legte sich Alakbar auf den Rücken in den Sand und schaute in den Himmel. Katya ärgerte sich darüber, das Alakbar sich bei dem Gespräch so offensichtlich langweilte. "Warum bist du sauer auf mich? In den 1930ern hat schon der englische Anthropologe Flinders Petrie gesagt, dass die ägyptische Zivilisation zweifellos kaukasische Ursprünge hat."
Alakbar stützte seine Ellbogen in den Sand. "Lass uns auf den Felsen klettern. Er ist flach wie ein Tisch. Und jetzt gibt es dort frischen Thymian. Wir können etwas davon in den Tee in deiner Thermosflasche tun."
Verärgert über sein Desinteresse schüttelte sie ihren Kopf. "Geh nur allein! Ich werde mich in den Schatten dieses Felsens setzen und mir vorstellen, er wäre eine der Osterinsel-Skulpturen."
Autorinnen aus Aserbaidschan
Shalala Abil
Aghabayim Agha
Aytan Agshin
Sudaba Aghabalayeva
Sakina Akhundova
Khumar Alakbarli
Gunel Anargizi
Eluja Atali
Alaviyya Babayeva
Umbulbanu (Banin)
Cavidan
Mirvarid Dilbazi
Mahsati Ganjavi
Tahira Gurratuleyn (Zarrintadj)
Aygun Hasanoghlu
Khalida Hasilova
Heyran-khanym
Nazila Isgandarova
Aziza Jafarzade
Shahnaz Kamal
Gulshan Latifkhan
Nushaba Mammadli
Afag Masud
Khurshudbanu Natavan
Manzar Nigarli
Sara Oghuz
Nigar Rafibayli
Umugulsum Sadigzade
Rugiyya Safari
Afag Shikhli
Svetlana Turan
Tarana Vahid
Mehriban Vazir
Zumrud Yaghmur
Angemerkt
In Aserbaidschan gibt es schon seit dem 11./12. Jahrhundert Nachweise über weibliches Schreiben. Von Mahsati Ganjavi,( مهستی گنجوی ) einer Poetin und Philosophin aus dieser Zeit, sind beispielweise bis heute 200 Vierzeiler erhalten (natürlich wird die Zuordnung der Verse bei fast allen in Zweifel gezogen und versuchsweise Männern zugeordnet...).
Man weiß nicht viel über ihr Leben. Ihr Geburtsort ist Ganja in Aserbaidschan, sie lebte jedoch an mehreren persischen Höfen. Einfach war das Dichterinnendasein damals nicht. Offenbar wurde Mahsati verfolgt, weil ihre Gedichte zu kritisch geraten waren. Vermutlich haben es deshalb auch nur ihre Liebesgedichte in die Gegenwart geschafft. Allerdings ist auch in ihnen eine eigene Sicht der Dinge zu spüren:
ما را به دم تير نگه نتوان داشت | Wir können nicht durch die Spitze eines Pfeils aufgehalten werden, in einer melancholisch(machend)en Zelle. Nur der, dessen Haar wie eine Kette ist,
|
(Bei der Übersetzung bitte ich - wie immer - um Nachsicht. Mit dem Umweg über das Englische ist sicher etwas verloren gegangen. Ob die Deutung einiger Rezensenten zutrifft, dass nur das Haar eines Geliebten/einer Geliebten eine Kette sein kann, um einen Liebenden/leine Liebende zu binden, kann ich nicht beurteilen. Es klingt natürlich plausibel. Auf jeden Fall aber ist aber schon in diesen wenigen Zeilen ein gewisser Freiheitsdrang zu spüren.)
Wort
Das besondere Wort stammt heute nicht aus dem vorgestellten Buch. Vielmehr fand ich den Namen Mahsati klanglich so schön. Da hat es mich dann doch sehr gefreut, dass seine Bedeutung ebenso bezaubernd ist. Der Name besteht aus zwei Worten "Mah" bzw. "Maah" und "Sati". Ersteres bedeutet Mond und letzteres Dame. Unsere Dichterin heißt also Dame des Mondes. Wenn das nicht poetisch ist...
Links zu einer weiteren Autorin
Von Afag Masud gibt es auf dieser website englische Übersetzungen ihrer Shortstories:
http://afag-masud.blogspot.com/2008/10/crash-by-afaq-masud-first-published.html
Links zu frauenrelevanten Themen aus Aserbaidschan
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauen_in_Aserbaidschan
https://www.graswurzel.net/gwr/2017/04/frausein-in-aserbaidschan/
https://www.hisour.com/de/women-in-azerbaijan-37413/
Kommentare
Kommentar veröffentlichen