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Bangladesh

Hallo, Ihr Lieben!

Unsere wöchentliche Reise führt uns heute nach Bangladesh.

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Und irgendwie freut es mich ganz besonders, dass das aktuelle Buch für das zentrale Thema Transformation, das uns durch die gesamte bisherige Lektüre begleitet hat, noch mal eine ganz besondere, eigenwillige Metapher gefunden hat. Viel Spaß bei:

Tahmima Anam: Die letzte wahre Geschichte. Übersetzt von Anke Caroline Burger. Insel Verlag 2018



 

 

 

 

 

 

 

Rezension

Das Skelett dieser Geschichte scheint auf den ersten Blick einfach strukturiert zu sein und tausendfach erzählt: Julia aus Bangladesh trifft Romeo aus Amerika. Beide verlieben sich auf den ersten Blick, werden aber durch Herkunft und gesellschaftliche Zwänge getrennt.

Betrachtet man die Erzähl-Knochen, die die Autorin Tahmima Anam dem Leser hinwirft, jedoch genauer, dann zeigt sich schnell, dass durchaus nicht alles artgerecht in ihrem Roman ist, sprich den eingetretenen Pfaden folgt. Rein formal bedeutet das, dass die Autorin ihre Geschichte wie in einem Briefroman an ihren Geliebten gerichtet erzählt. Das ist schon mal eine Perspektive, die wir absolut nicht mehr gewohnt sind. Normalerweise spricht ein erzählendes Ich immer brav direkt zu uns Lesenden. Wir erfahren auf diese Weise alles aus erster Hand, sind immer dabei, können aber selbst in der emotionalen Deckung bleiben. 

Hier passiert etwas anderes. Die Protagonistin spricht die ganze Zeit ein "du" an, mit dem wir Lesende aber nicht gemeint sind. Das macht uns zu Voyeuren, die einem privaten Gespräch lauschen. Eigentlich natürlich genau das, was Lesende sind, und trotzdem eine seltsame Erfahrung - und ganz sicher der Grund, warum der Briefroman so völlig aus der Mode gekommen ist. Denn heute geht es ja vor allem um das Ich. Wir wollen nicht das Gefühl haben, nur Zaungäste in der Geschichte anderer sein, sondern immer alles selbst erleben - natürlich vom Sofa aus.

Sobald man als Leserin jedoch die Hürde der ungewohnten Perspektive überwunden hat, gibt es als Belohnung viel zu entdecken. Die Protagonistin des Buches, Zubaida, steht an einem Punkt in ihrem Leben, an dem theoretisch alles möglich, praktisch aber nicht durchführbar scheint: Soll sie mit ihrer Familie brechen, um bei ihrem Seelenverwandten in Amerika bleiben zu können? Ist es besser, sich den Erwartungen zu beugen und den Schulfreund zu heiraten, dem sie schon lange versprochen ist? Wie viel Recht haben die Eltern überhaupt, über ihr Leben zu bestimmen, vor allem da sie "nur" Adoptiveltern sind? Soll Zubaida sich in die Arbeit als Paläontologin stürzen, um so die Entscheidung weiter hinauszögern zu können oder einen ganz anderen Weg zu beschreiten? Und im Zentrum des ganzen Dilemmas taucht dann auch noch Diana auf, der schwimmende Laufwal.

Über Diana habe ich mich besonders gefreut, weil sie für mich eine alte Bekannte ist. Vor einigen Jahren hatte ich das Vergnügen, an einem Film mitzuarbeiten, der dem Ambulocetus natans via Computeranimation neues Leben einhauchte. Das Faszinierende an diesem Vorfahren eines Teils der heutigen Wale ist vor allem die Tatsache, dass das Wesen gewissermaßen gegen den Strom der Evolution schwamm. Während sich eine Vielzahl von Ozeanbewohnern auf den Weg aufs Land machten, ist Ambulocetus eine der wenigen Arten, die schon mal ein vollständig funktionsfähiger Landbewohner war, dann aber doch sein Heil im Wasser suchte. 

Damit ist Diana natürlich ideal als Projektionsfläche für die jeweilige Situation, in der sich Zubaida im Roman gerade wiederfindet. Das Feststecken im fossilen Urgestein einer erstarrten Gesellschaft. Das mühsame Herausmeißeln des eigenen Ichs unter der glühenden Sonne der Tradition. Das Zusammensetzen des Knochenpuzzles, das schließlich Auskunft über die eigene Vergangenheit gibt, die vor dem adoptierten Kind unter einer Menge Staub verborgen war. Ich könnte jetzt noch eine Weile so weitere assoziieren, was ein altes Fossil für einen einzelnen Menschen oder gar für die Menschheit als solches bedeuten könnte. Aber lest doch einfach selbst in "Die letzte wahre Geschichte".

 

Leseprobe

Ich mache einen Scan vom Fußgelenk an und schicke die Bilder an Bart und Jiminez. Oft halte ich inne und denke darüber nach, was für ein Geschenk ich in Händen halte: Diana, hier in Cambridge, es ist ein Wunder, Ausdruck von allem, was wir als Menschen sind - Wissenschaftler, die die Vergangenheit aufdecken, Künstler, die sich etwas vorstellen, schwache, empfindliche Wesen, die nach Unsterblichkeit streben, obwohl wir wissen, dass wir nur winzige Punkte im langen Kapitel der Menschheitsgeschichte sind. 
Nachts beschäftige ich mich mit unserer persönlichen Geschichte. Stück für Stück setze ich sie zusammen. Viele andere Stimmen schreien durcheinander und wollen sich ebenfalls Gehör verschaffen - meine Mutter, Anwar, Mo und das Leben, das ich gehabt haben könnte, wenn die Dinge eine andere Wendung genommen hätten. Du weißt nicht, wer Anwar ist? Noch nicht. Wer mag das sein, fragst du dich. Ich verrate dir seinen Namen, aber noch nichts weiter.


S.67

 

Facts zur Autorin

 


 

 

 

 

 

 

 © Olivia Arthur/Agentur Focus/Suhrkamp Verlag

Tahmima Anam ( তাহমিমা আনাম ) wurde am 8. Oktober 1975 in Dhaka, in Bangladesh, geboren. Sie studierte an der Harvard Universität und schloß mit einem PhD in Anthropologie ab. Später erlangte sie außerdem ihren Master of Arts in kreativem Schreiben. Heute lebt die Autorin in London.


Preise

2008 Best Book Commonwealth Writers für A Golden Age

2015 O. Henry Award für ihre Kurzgeschichte "Garmet"

 

Weitere Bücher der Autorin

A Golden Age. John Murray, 2007

The Good Muslim. HarperCollins, 2011

The Bones of Grace. HarperCollins, 2016

The Startup Wife. Canongate Books, 2021

 

Außerdem Kurzgeschichten:

"Saving the world". Granta. London, 2008

"Anwar Gets Everything". Granta. London, 2013 

"Garments". Freeman's. London. 2015



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Links zur Autorin

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