Ihr Lieben,
unser nächster literarischer Exkurs führt uns nach
Bosnien und Herzegowina
und zwar in die Zeit des Krieges. Es geht um:
Zlata Filipovic: Ich bin ein Mädchen aus Zarajevo. Bastei Lübbe Verlag, 1994
Originalausgabe: Le Journal de Zlata. Fixot Paris 1993
Rezension
Diese Rezension stürzt mich in ein gewisses Dilemma, das ich tatsächlich nicht so recht auflösen kann. Zlata Filipovics 1993 veröffentlichtes Tagebuch ist eben genau das: Das Tagebuch eines Kindes. Und damit leider auch nicht im engeren Sinne literarisch interessant, gleichzeitig aber natürlich ein außergewöhnliches Zeitzeugnis, das den Alltag in Sarajevo während der Belagerung in den Jahren 1991–1993 beschreibt.
Vielfach haben Kritiker nach der Veröffentlichung die junge Zlata als "Anne Frank von Zarajevo" gefeiert. Diese Vergleiche hinken ja meistens, aber hier erschöpft sich die Gemeinsamkeit auch schon darin, dass ein Mädchen während eines Krieges ein Tagebuch schreibt. Ich finde allerdings, das reicht nicht aus, wenn die biografischen und literarischen Unterschiede so groß sind.
Zlatas Eintragungen beschäftigen sich zunächst mit Schule, Freundinnen und Popstars. Häufig geht es auch um Familienfeiern und Ferien. Dann beginnt die Belagerung und verändert das Leben des Mädchens. Die Schule fällt aus, was Zlata als sehr guter Schülerin ziemlich missfällt. Verwandte und Freunde sprechen über Flucht. Nach und nach verabschieden sich geliebte Menschen und Zlatas Welt wird immer kleiner.
Granatfeuer lässt ihre Familie wiederholt Deckung im Keller der Nachbarn suchen, nach und nach werden Gebäude in Zlatas Viertel zerstört. Zu den Großeltern, die in einem anderen Stadtteil wohnen, bricht der Kontakt immer wieder ab. Wenn der Beschuss aufhört, quält vor allem die Langeweile. Die Kinder dürfen nicht draußen spielen und sogar in den Häusern meidet die Familie alle Zimmer, die der Frontlinie zugewandt sind. Je länger die Belagerung andauert, desto knapper werden die Lebensmittel. Wasser, Strom und Gas fallen immer wieder aus und werden schließlich komplett abgeschaltet.
Der einzige Lichtblick in dem Chaos: Die Menschen in der Nachbarschaft helfen einander. Sie feiern mit dem wenigen, was sie haben, jeden Geburtstag und jedes Fest. Und viele tun das sicher mit dem Gedanken, jeder Anlass könne der letzte sein.
Wenn ich den Inhalt hier so niederschreibe, merke ich, dass die Lektüre doch sehr in mir widerhallt. Ich möchte mir eigentlich nicht vorstellen müssen, dass Menschen irgendwo in einem Krieg ausharren, schon gar keine Kinder. Und doch passiert ja genau das auch heute an vielen Orten auf der Welt.
Und darum ist es eben doch enorm wichtig, so ein Buch wie Zlatas Tagebuch zu lesen, schon allein um die Menschen in den Kriegsgebieten neben all dem anderen, das täglich auf uns einstürmt, nicht zu vergessen. Das ist unzweifelhaft der große Wert dieses Buches und seine traurige Aktualität.
Leseprobe
Die Straßen sind auch nicht mehr wie früher, kaum jemand geht raus, alle Leute sind ängstlich, traurig, jeder hat's eilig und zieht den Kopf ein. Die Schaufenster sind kaputt, und die Geschäfte sind geplündert worden. Meine Schule wurde von einer Granate getroffen, das Obergeschoss ist kaputt. Auch das Theater ist von diesen verdammten Granaten getroffen und ziemlich beschädigt worden. Es ist furchtbar, wie viele alte Häuser in Sarajevo Wunden bekommen haben.
Ich bin zu Opa und Oma gegangen. Wir haben uns ganz fest umarmt und auf beide Wangen geküßt. Sie haben vor Freude geweint. Es tut mir weh, dass sie in vier Monaten so dünn und alt geworden sind.
S.85
Facts zur Autorin:
Zlata Filipović und ihren Eltern gelang nach zweijähriger Belagerung schließlich die Flucht nach Paris. Das Tagebuch, "Le journal de Zlata", wurde zunächst auf Französisch verlegt, dann aber in mehrere Sprachen übersetzt und darf durchaus als Bestseller gelten. Zlata studierte später an der University of Oxford und lebt heute in Dublin.
Kriegstagebücher von Kindern wurden allerdings so etwas wie ihr Lebensthema. 1999 schrieb sie das Vorwort zu The Freedom Writers Diary. Außerdem ist sie Mitherausgeberin einer Sammlung von Augenzeugenberichten aus Kriegszeiten mit dem Titel Stolen Voices.
Weitere Bücher der Autorin:
Zlata Filipović: Vorwort in Erin Gruwell: Freedom Writers. Wie eine junge Lehrerin und 150 gefährdete Jugendliche sich und ihre Umwelt durch Schreiben verändert haben, Übersetzung von Kerstin Winter. Autorenhaus Verlag, Berlin 2007
Zlata Filipović and Melanie Challenger (Hrsg.): Stolen
voices: young people's war diaries, from World War I to Iraq. Penguin, London 2006
Weitere Autorin aus Bosnien und Herzegowina
Emina Smailbegović
Angemerkt
Die Belagerung der Stadt Sarajevo durch die Armee der
bosnischen Serben begann in der Nacht vom 4. auf den
5. April 1992 und endete am 29. Februar 1996 durch das Eingreifen westlicher
Staaten. Mit 1425 Tagen war diese Belagerung die längste im 20. Jahrhundert. Beobachtern zufolge wurden während dieser Zeit 11.000
Menschen getötet, darunter 1.600 Kinder. Die Luftbrücke, die zur Versorgung der Belagerten eingerichtet wurde, dauerte länger als die Berliner Luftbrücke.
Links zur Autorin
Zlata Filipovic; Packer & McGuire; Paul Theroux — Charlie Rose
Links zumThema
remember_sarajevo EN-FINAL (digital journalist.org)
20 Jahre Haft für den Kommandeur der Heckenschützen in Sarajevo - WELT
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