Liebe Leserinnen,
sind wir wieder mal in Mittelamerika unterwegs, und zwar in
Costa Rica
und wir entdecken
Anacristina Rossi: Limón Reggae. Editorial Legado. Alcalá. 2007
(Verlage aufgepasst: Bisher ist das Buch nur auf Spanisch und in englischer Übersetzung erschienen!)
Rezension
Im zweiten Roman von Anacristina Rossi über Limón, die traumhaft schöne karibische Provinz Costa Ricas, steht Laura im Mittelpunkt. Sie führt als Kind zunächst ein angenehmes Leben. Ihr Vater nimmt sie häufig mit auf Ausflüge in die wilde Natur der umliegenden Täler. Sie liebt den Regenwald, den Strand und ihre Stadt.
Nur durch das Wispern und Flüstern der anderen in der Schule ahnt sie manchmal, dass sie irgendwie anders ist. Lauras Teint ist dunkler als bei den meisten Mädchen auf ihrer Schule, aber heller als der von den schwarzen Kindern, die sie kennt. Daran findet sie nichts Ungewöhnliches, denn die Vorfahren ihrer Mutter stammen aus dem Libanon und der Vater hat sowohl schwarze als auch weiße Ahnen. Laura macht sich keine allzu großen Gedanken wegen ihrer Hautfarbe, nur ihre Lider ärgern sie ein bisschen. Sie sind, wie die ihrer Mutter, „arabisch“ geformt und erwecken - zumindest bei manchen Lehrern - offenbar den Eindruck, sie träume die ganze Zeit und sei nicht bei der Sache. Das führt zwar zu ungerechten Ermahnungen, belastet Lauras Alltag aber nicht wirklich.
Die meisten Kinder sind nett zu Laura, aber nahe Freunde hat sie nicht. Das macht ihr lange nichts aus, denn sie kennt es nicht anders. Auch so ist die Welt schön und voller Wunder. Laura liebt das Licht ihrer Heimat, Farben und die Natur, malt mit Begeisterung und fühlt sich im Haus ihrer Eltern geborgen.
Alles ändert sich dramatisch als der Vater seinen Beruf aufgibt, um sich selbständig zu machen. Wegen eines groß angelegten Schwindels verschuldet sich die Familie so sehr, dass kaum Hoffnung besteht, aus dieser Lage wieder herauszukommen. Der Vater gibt auf, verfällt in Depression und verbringt seine Zeit nur noch im Bett. Die Mutter versucht, durch Näharbeiten und später durch andere Jobs die Familie über Wasser zu halten. Allerdings müssen sie in einen der Slums von San José umziehen, weil sie sich ihr Haus in Limón unter diesen Umständen nicht mehr leisten können.
Das Leben im Slum versetzt Laura in eine Art Schockstarre. Zwar wird ihr selbst körperlich nichts angetan, aber sie erträgt den Anblick der Slumkinder nicht. In deren Augen sieht sie „eso“ (das Ding), eine furchtbare Mischung aus Hass, Rache und Lust am Quälen. Die ausgemergelten, halbnackten, boshaften Gestalten sind nach Lauras Gefühl keine Menschen mehr, sondern Monster. Sie hasst es, dass diese Wesen die üble Angewohnheit haben, überall auf der Straße ihre Haufen zu hinterlassen, auch in dem Eingang zu dem schäbigen Mietshaus, in dem Laura nun wohnen muss. Mit Grauen beobachtet sie, wie die Kinder über kleine Tiere herfallen und bevorzugt Babykatzen zu Tode quälen. Diese Welt versteht Laura nicht. Als sie von Albträumen geschwächt zunehmend kränker wird, erkennt ihre Mutter, dass die Tochter in den Slums nicht überleben kann. Laura darf zurück nach Limón und lebt von diesem Zeitpunkt an bei ihrer Tante Maroz.
Die Tante ist stärker als Lauras Mutter mit ihren arabischen Wurzeln verbunden. Sie hätte sich für ihre Nichte den traditionellen Namen Aisha gewünscht und nicht einen, der ausgewählt wurde, um besser an die costa-ricanische Gesellschaft angepasst leben zu können. Mit fünfzehn trifft Laura einen Freund aus der Kindheit wieder. Der Percival von damals ist mittlerweile allerdings erwachsen und nennt sich Ahmed. Laura verliebt sich in den sensiblen jungen Mann, der außerdem noch ein Geheimnis birgt. Er gehört einer Gruppe von jungen Aktivisten an, die - inspiriert von der nordamerikanischen Black Panther Bewegung - gegen den Rassismus in Costa Rica kämpfen möchte.
Laura fühlt sich magisch angezogen von den Visionen, die auch die Befreiung der Frau propagieren. Sie möchte unbedingt mitkämpfen und dazu beitragen, dass niemand mehr in Slums leben muss und dort zum Monster wird. Sie fühlt sich als Aisha, die Kriegerin, und Ahmed mehr verbunden als je zuvor. Aber der Traum zerspringt. Laura erfährt doppelte Ablehnung. Ihr Freund aus Kindertagen teilt ihr mit, dass er in eine andere verliebt ist. Zwar bietet er an, ihr Mentor in der Gruppe zu werden, sobald sie volljährig ist, aber nicht mehr. Letztlich kommt es aber auch dazu nicht, denn die Aktivisten lehnen Laura ab. Ihre Haut sei zu hell, um schwarze Interessen zu vertreten. Sie gilt in der Gruppe als “paña”, als spanische Unterdrückerin. Lauras geliebtes Limón fühlt sich plötzlich gar nicht mehr nach einem Zuhause an.
Verzweifelt sucht die junge Frau eine neue geistige und emotionale Heimat. Schließlich findet sie sie in der politischen Linken und im Guerrillakrieg in El Salvador. Hier scheint alles wahr zu werden, was sie sich immer erträumt hat: Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe kämpfen gemeinsam gegen Armut und Ungerechtigkeit. Aber ist diese Gruppe wirklich das Zuhause, das Laura sucht? Auf jeden Fall findet sich das Lebensgefühl im Reggae wieder, der die Gemeinschaft der Rebellen zusammenhält. Anacristina Ross lässt ihre Geschichte in den 1970er Jahren beginnen und 2001 mit dem Angriff auf die Twin Towers in New York enden.
Mich hat das Buch beeindruckt, weil ich die Lebensentscheidungen von Laura/Aisha verstehen und nachempfinden kann. Ich halte Gewalt natürlich nicht für ein probates Mittel, um Forderungen durchzusetzen und Politik zu ändern. Aber ich habe zumindest den Eindruck, ein bisschen besser zu verstehen, was die Menschen in Mittelamerika antrieb, als sie zu den Waffen griffen, um eine Utopie zu verwirklichen. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch die Autorin hat diesen Roman nicht geschrieben, um die Gewalt zu entschuldigen.
Rossi versucht aber, einen anderen Bick auf die Geschehnisse zu werfen als einige Historiker. Die Rebellen bleiben in Limón Reggae immer Menschen mit all ihren Ängsten und Wünschen, sie werden nicht dämonisiert. Das erscheint mir wichtig, wenn man die Geschichte und letztlich auch die heutige Situation in Costa Rica mit all der Politikverdrossenheit, Gewalt und der schwierigen Wirtschaftslage verstehen möchte.
Leseprobe
Aufgeregt verlässt Laura Langleys Haus. Sie drückt das, was Ahmed ihr gegeben hat, fest an sich. Ihre Neugier überwältigt sie. Sie geht hinunter zur Mole, setzt sich dort auf die Treppe und liest. Er hat in Englisch etwas an den Rand geschrieben: “Frauen kämpfen tatsächlich! Ich hoffe, du nimmst das als Anregung.” Es gibt Fotos: Eine schwarze Frau bietet irgendwelchen Soldaten die Stirn. Eine andere spricht zu Tausenden, stolz und selbstbewusst. Schwarze flüchtende Frauen mit Walkie Talkies. Darunter steht: Sommer der Freiheit 1964. Das ist fast genau sieben Jahre her. Sie sucht nach den Namen der Frauen.
Die wichtigste Anführerin ist Kathleen Neal, zumindest wenn man dem Text glauben darf, der in verschiedenen Farben markiert ist. Sie ist ein angesehenes Mitglied des SNCC* und der Black Panther Partei. Will Percy, dass sie bei so einer Gruppe Mitglied wird? Unglaublich! Unter dem Foto von Kathleen Neal ist auch das Programm der Partei abgedruckt. Hier wird behauptet, dass die Black Panther die einzige Revolutionspartei auf der ganzen Welt ist, die sich auch für die Befreiung der Frau und die Befreiung der Homosexuellen einsetzt. “Wir glauben, dass niemand eines anderen Besitz sein kann und dass die Frauen das Recht haben, ihren eigenen Namen zu tragen.”
Laura mag, was sie da liest, so sehr, dass sie vor Freude lachen muss. Sie kann es gar nicht abwarten, Percys Gruppe beizutreten. Natürlich gibt es da ein kleines Problem. Die anderen Mitglieder von CoRev mögen sie nicht, außer Maikí. Sie könnten sich dagegen entscheiden, sie mitmachen zu lassen. Aber nein, das Programm der Partei verspricht ja ganz klar: “Wir glauben nicht an männliche Dominanz. Wir erkennen an, dass alle Frauen das Recht haben, frei zu sein. Wie könnten sie ihr da nicht erlauben, der Gruppe beizutreten? Wir werden für ein sozialistisches System kämpfen, das ein ausgefülltes, kreatives Leben ohne Ausbeutung für alle Menschen garantiert…”
S.62
SNCC = Student Nonviolent Coordinating Committee
Facts zur Autorin
Anacristina Rossi
kam in San José, Costa Rica, zur Welt. Sie studierte in ihrem Heimatland, England,
Frankreich und den Niederlanden. Heute arbeitet sie als Journalistin, Übersetzerin,
Autorin und Umweltaktivistin wieder in Costa Rica. Außerdem unterrichtet sie
als Professorin an der dortigen Universität. In- und ausländischen Kritikern
zufolge markiert Rossi mit ihrem fast intim zu nennenden Erzählstil in ihrem
Roman María la noche einen Neuanfang in der costaricanischen Literatur. Mit La Loca de Gandoca (Die Verrückte von Gandoca) schuf sie den ersten Ökologieroman des Landes, den ich nur zu gern an dieser Stelle vorgestellt hätte, aber auch da mangelt es an einer Übersetzung.
Weitere Bücher der Autorin
Romane
María la noche, Lumen, Barcelona, Spain, 1985. Der Roman wurde unter dem Titel Maria la nuit 1997 auch ins Französische übersetzt.
La Loca de Gandoca, EDUCA (Editorial Universitaria Centroamericana), San José (Costa Rica). 1991
Limón Blues, Alfaguara, San José, Costa Rica, 2002/2003
Kurzgeschichten
Situaciones Conyugales, Editorial REI, San José, Costa Rica, 1993.
Essays
"Essay on violence", Editorial Uruk, San José, 2007.
"El corazón del desarraigo: la primera literatura afrocostarricense", Historia de las literaturas, Editorial F&G, Guatemala, 2010.
"Change of economic system: a matter of survival", Magazine of Social Sciences of the University of Costa Rica.
Preise
1985 Nationaler Preis für den Roman María la noche.
2002 Literaturpreis Ancora
2002 Nationaler Preis für den Roman Limón Blues.
2004 Medaille des Präsidenten, verliehen von der chilenischen Regierung.
2004 Lateinamerikanischer Preis für Erzählungen José María Arguedas, verliehen vom House of the Américas.
Weitere Autorinnen aus Costa Rica
Sara Casal de Quirós
Jessica Clark Cohen
Laura Fuentes Belgrave
Mirta González Suárez
Carmen Lyra
Carmen Naranjo
Eunice Odio
Julieta Pinto
Carla Pravisani
Linda Berrón Sañudo
Karla Sterloff
Evelyn Ugalde
Links zur Autorin
ENVIRONMENTAL ISSUES IN COSTA RICA: An Interview With Anacristina Rossi on JSTOR
Links zum Buch
Anacristina Rossi: Limón Reggae (cuny.edu)
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