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Dominica

Liebe Lesende,

heute verreisen wir in die Sonne und in die Vergangenheit, nach

 

Dominica

 


 

 

 

 

 

 

 

und entdecken 

Jean Rhys: Sleep it off Lady. 1976

 


 

 

 

 

 

 


Rezension

Dieses Bändchen enthält eine Sammlung von sechzehn Kurzgeschichten, die Jean Rhys in einem Zeitraum von 75 Jahren geschrieben hat. Die erste entstand 1899, die letzte hat die Autorin in den 1970er Jahren vollendet. Da Rhys meist Autobiografisches einfließen lässt, spielen nur die ersten fünf Geschichten auf Dominica, wo die Autorin ihre Kindheit verbrachte.

In Pioneers, Oh, Pioneers lernt Familie Cox (vermutlich ist die Familie der Autoin gemeint) einen reichen Neuankömmling kennen, der sich auf der Insel niederlassen will. Er kauft ein Haus mit großem Grundstück und erregt das Misstrauen der Bevölkerung aus mehreren Gründen. Zum einen lebt er ganz zurückgezogen ohne Kontakt zu anderen seines Standes, dann empört sich sein Nachbar, weil er den Mann auf dessen eigenem Grundstück nackt angetroffen hat und schließlich erregt sich die Inselbevölkerung darüber, dass der weiße Großgrundbesitzer ein schwarze Frau geheiratet hat. Als diese plötzlich verschwindet, hat er nicht nur die weiße, sondern auch die schwarze Bevölkerung gegen sich und es kommt es zur Katastrophe. 

Goodbye Marcus, Goodbye Rose ist eine Geschichte über die zwölfjährige Phoebe. Eben noch ein kleines Mädchen, das sich wie alle ihre Klassenkameradinnen eine Zukunft als Hausfrau und Mutter vorstellt (Marcus und Rose sind die Namen der geplanten Kinder), verändert sich das Leben von einem Moment auf den anderen, als sie beginnt, den alten Captain Cardew auf Spaziergängen zu begleiten. Die Autorin zeigt in dieser Geschichte sehr deutlich, dass es nicht unbedingt eines sexuellen Übergriffs bedarf, um den Lebensweg eines Kindes zu ändern. Captain Cardew redet "nur", doch seine verbalen Übergriffe verändern alles.

Die dritte Geschichte beschreibt The Bishop's Feast. Jedes Jahr bereiten die Schüler der von Nonnen geführten Schule auf Dominica eine Aufführung vor. Es wird gesungen, getanzt und Stellen aus der Bibel als lebende Bilder nachgestellt. Der bisherige Bischof war ein großer Fan der farbenfrohen Aufführungen, doch in diesem Jahr kommt ein neuer Bischof, der die Umsetzung alles andere als angemessen findet.

In Heat geht es um den Ausbruch des Vulkans Mont Pelée auf Martinique und seine Auswirkungen auf Dominica. Die Autorin erzählt vom Ascheregen, vom zähen Informationsfluss und vom Entsetzen über den Tod von 40.000 Menschen. Sie berichtet aber auch von einem offenbar zutiefst menschlichen Bedürfnis, nämlich dem überall auf der Welt so verbreiteten victim blaming. Der sinnlose Tod so vieler Menschen braucht eine Erklärung, um ihn verarbeiten zu können. Und natürlich will man sich auch sicher fühlen, dass man selbst nie von einer solchen Katastrophe getroffen werden kann. Die am schlimmsten betroffene Stadt, St. Pierre, wird also in dieser Erklärungsnot zum Sündenpfuhl mit einem Theater, in dem Tänzerinnen aus Paris auftreten. Und überhaupt waren alle Frauen aus St. Pierre sowieso schöner als anderswo, aber eben auch verdorbener. Kennt man ja...

Fishy Waters ist die letzte Geschichte des Bändchens, die auf Dominica spielt. Sie beginnt mit der Korrespondenz zwischen dem Redakteur des Dominica Herald und einem anonymen Leser. Es geht um einen konkreten Fall, der gerade verhandelt wird, ganz allgemein aber um Rassenhass, eine Zweiklassenjustiz und das Schicksal  schwarzer Mädchen und Frauen, die auf so unterschiedliche Art und Weise zum Opfer werden können. In dieser Geschichte zumindest ist nicht alles so, wie es scheint.  


Leseprobe

Wahrscheinlich erinnerst Du Dich nicht an den Mann. Er heißt Jimmy Longa und kam erst kurz nachdem Du abgereist warst hierher. Nun ja, Matt traf ihn dabei an, wie er versuchte, ein kleines Mädchen in zwei Teile zu sägen - Kannst Du das glauben? - und jetzt ist Matt der Hauptzeuge der Anklage. Im ganzen Ort brodelt es vor Gerüchten, Diskussionen, Briefen an die lokale Zeitung und so weiter. Es ist wirklich unerfreulich. Ich habe Matt gebeten, nichts weiter damit zu tun haben zu müssen, denn ich bis sicher, dass es Ärger geben wird. Er bestreitet das, weil Longa ein weißer Mann ist, kein schwarzer. Ich sage aber "Bevor das Ganze vorüber ist, wird Jimmy Longa per se zum Schwarzen geworden sein, Du wirst schon sehen. Irgendwie werden die das hindrehen." Aber Matt will nicht einmal darüber reden. Ich bin gar nicht glücklich darüber. Er sieht schlecht aus und ist so ganz anders als sonst. Ich wünschte nur, ich hätte ihn nicht dazu überredet, sich nach seiner Pensionierung hier niederzulassen - ein Besuch, um dem Winter zu entkommen, ist das eine, aber hier zu leben, ist etwas völlig anderes.

S.48

 

Facts zur Autorin

Jean Rhys (eigentlich Ella Gwendolyn Rees Williams) war die Tochter eines walisischen Vaters und einer kreolischen Mutter. Sie lebte bis zu ihrem 16. Geburtstag auf Dominica. 1907 entschied ihr Vater, dass es Zeit für eine britische Ausbildung sei und schickte seine Tochter zu seiner Schwester nach England, wo Rhys zunächst die Perse School für Mädchen in Cambridge besuchte. Nach ihrem Abschluss studierte sie zwei Semester an der Royal Academy of Dramatic Art in London. Allerdings gelang es ihr nicht, ihren karibischen Akzent abzulegen und ihre Lehrer legten ihr nahe, erstmal "richtig englisch" zu lernen, bevor sie weiter studierte.

Zurück zu ihren Eltern wollte Rhys nicht. Sie versuchte, mit verschiedenen Jobs den Unterhalt, den sie nach wie vor bekam, aufzubessern. Da sie Talent für Gesang und Tanz hatte, hielt sie sich unter anderem als Revue-Tänzerin über Wasser. Als der Vater 1910 plötzlich verstarb, war die junge Frau ganz auf sich allein gestellt. In dieser Zeit begann sie zu schreiben, aber erst 1924 gelang ihr eine erste Veröffentlichung. Der englische Schriftsteller und Verleger Ford Madox Ford hatte ihr Potenzial erkannt und begann sie zu fördern. Er lobte ihren Stil, ihre Passion und ihre besondere Perspektive als Exilantin. Ford war es auch, der ihr nahelegte, das Pseudonym Jean Rhys zu verwenden. Viele Arbeiten der Autorin sind zumindest in Teilen autobiographisch geprägt.

Bis 1939 erschienen mehrere Erzählungen und vier Romane. Aber erst 1966 erlangte Jean Rhys mit ihrem im Roman Wide Saragossa Sea literarischen Weltruf. Dazu trug unter anderem auch die feministische Bewegung bei, die das Werk als eine Art prequel des viktorianischen Klassikers „Jane Eyre“ von Charlotte Brontë feierte. Brontë erwähnt eine „mad lady in the attic“. Rhys erschuf eine Protagonistin aus der Karibik, die einen Engländer heiratet. Als die Eheleute in die Heimat des Mannes ziehen, ändert sich alles für das Paar. Der Engländer verhält sich plötzlich völlig anders zu seiner Frau, versucht sich in die Gesellschaft der Alten Welt wieder zu integrieren. Seiner Frau gelingt das nicht. Sie wird zur Ausgestoßenen, weil niemand ihre Herkunft und Kultur respektiert. Schließlich ist sie dazu verdammt, als Verrückte auf dem Dachboden zu hausen. Das Time Magazin zählte Wide Saragossa Sea zu den hundert besten englischsprachigen Romanen (aus der Zeit zwischen 1923 bis 2005). Erstaunlicherweise wurde das Meisterwerk erst 1980 ins Deutsche übersetzt.

 

Weitere Bücher der Autorin

Postures. 1928; Amerikanischer Titel Quartett, 1929.

After leaving Mr. Mackenzie. 1931

Voyage in the Dark. 1934

Good Morning Midnight. 1939

Let them call it Jazz. 1962

Wide Sargasso Sea. 1966

Sargassomeer. Übersetzung Anna Leube. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2009

Die weite Sargassosee. Übersetzung Brigitte Walitzek. Schöffling & Co, Frankfurt 2015

Smile, please: An unfinished Autobiography. (posthum veröffentlicht) 1979

Das Rauschen des Flusses. Übersetzung von Helke Voß-Becher. Golden Luft Verlag. Mainz 2018

Jean Rhys's Letters: 1931–1966. Ed. 1984. Hrsg. Francis Wyndham and Diana Melly.

 

Weitere Autorinnen aus Dominica

Phyllis Shand Allfrey

Cissie Caudeiron

Elma Napier (ist in Schottland geboren, hat aber einen Großteil ihres Lebens auf der Insel verbracht)

 

Angemerkt

Der Wikipedia-Eintrag für Jean Rhys ist offenbar von jemandem geschrieben worden, der die Autorin ganz und gar nicht leiden kann oder allgemein eine sexistische Grundhaltung hat. Ich zitiere mal:

Sie wuchs in der Karibik auf und kam 1907 nach England, wo sie erst einmal Revuegirl in der englischen Provinz war. Nach dem Tod ihres Vaters 1910 lebte Jean Rhys am Rande der Armut. Sie beschäftigte sich mit Kunst und Literatur, arbeitete als Aktmodell und lebte von dem Geld verschiedener Männer.

Mal abgesehen davon, dass Rhys als Schülerin nach England kam und erst später dazu gezwungen war, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, bin ich doch ziemlich sprachlos über diese verkürzte Darstellung, die vor allem durch Auslassung sexistisch ist. Im englischen Wikipedia-Eintrag ist das übrigens nicht so. Hier wird durchaus differenzierter erzählt. Wir sollten unbedingt alle als Wiki-Autorinnen arbeiten, bevor auch hier (wie eigentlich schon immer) die Geschichte von Frauen einfach ausgelassen oder negativ umgeschrieben wird. Dass der Artikel über Rhys kein Einzelfall ist, zeigt die laufende Diskussion über Sexismus bei Wikipedia.

https://www.youtube.com/watch?v=ZGBDD9QZcPk

Wie weiblich ist Wikipedia? Ein Workshop hilft nach - Medien - SZ.de (sueddeutsche.de)

Sexismus bei Wikipedia: „Erschreckende Aggressivität“ - taz.de

 

Links zur Autorin

https://www.literaryladiesguide.com/author-biography/jean-rhys/

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 


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