Wir bleiben weiterhin unter tropischer Sonne, liebe Lesende,
diesmal führt uns unsere Reise in die
Dominikanische Republik
Und wir lernen diese Gegend sogar gleich zu drei Zeiten parallel kennen mit
Rita Indiana: Tentakel.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Wagenbach Verlag, Berlin 2018
Originaltitel:
La mucama de Omicunlé (Omicunlés Zimmermädchen)
Rezension
Die Handlungsfäden dieses Romans sind gar nicht so leicht zu beschreiben, schlingen sie sich doch ebenso eng und verzwirbelt um die Lesenden wie die Tentakel einer Spanischen Galeere um ihr Beutetier. Es gibt drei Zeitebenen, in denen Handlungsstränge erzählt werden, die sich aufeinander beziehen. Ungewöhnlich ist, dass wir alle drei Zeiten mit derselben Person kennenlernen, die sich aber jeweils so stark verwandelt, dass sie zugleich auch drei Personen ist. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Assoziation der Dreifaltigkeit von der Autorin impliziert ist und nicht allein meiner Wahrnehmnung entspringt.
Zeitreiseromane stellen ja immer gewisse Anforderungen an die Lesenden, aber normalerweise kann man sich zumindest an den zeitreisenden Protagonistinnen orientieren. Auch das ist hier nur eingeschränkt möglich, denn die Figur ändert ihren Namen, einmal auch ihr Geschlecht - alles eben, was wir gemeinhin als Orientierung nutzen, um eine Person zu identifizieren. Die Frage nach der Identität scheint völlig losgelöst von Raum und Zeit zu sein. Trotzdem versuche ich, zumindest ansatzweise den Inhalt zu beschreiben:
Die drei Personen sind Acilde, Argenis und ein zweiter Argenis.
Acilde ist 16 Jahre alt und lebt im Jahr 2024. Sie auf dem besten Wege ihrer Mutter in die Prostitution zu folgen, als sie überraschend einen Job als Hausmädchen bei einer Voodoo-Priesterin bekommt. Für Acilde ist das ein ziemlicher Aufstieg, ihr heimlicher Lebenstraum ist es jedoch, ein Mann zu werden und ein eigenes Restaurant zu leiten.
Im Jahr 1991 taucht der glücklose Maler Argenis an der
Küste der Dominikanischen Republik auf und wird von einem Mäzen in dessen Künstlerkolonie
eingeladen. Weil er zwar handwerklich perfekt naturalistisch malen kann, aber eben nicht abstrakt oder postmodern, wird er von den anderen in der Kommune bald als Schmarotzer angesehen. Vor allem die Frau des Mäzens, die sich als Video- und Musikkünstlerin immer wieder neu erfindet, versucht Acilde aus der Künstlerkolonie zu mobben.
Schließlich findet sich im 17. Jahrhundert an selber Stelle ebenfalls ein Maler namens Argenis ein, der sich
einer wilden Bande von Bukanieren anschließen muss, um zu überleben. Immerhin schätzen diese seine naturalistische Malweise und helfen ihm, das Piratenleben in Rinderblut festzuhalten.
Die drei Personen leben in ihrer Zeitstufe jeweils ein eigenes Leben, spüren jedoch mehr oder weniger deutlich über Raum und Zeit hinweg die Anwesenheit der anderen. Ganz erstaunlich fand ich vor allem, dass dieser Zustand nicht von einer modernen Technologie ausgelöst wird, sondern von einem Lebewesen, das in seiner Unsterblichkeit gewissermaßen die Tentakel in allen Zeiten streckt: die Seeanemone. Das Weichtier scheint jedoch nicht willkürlich Menschen zu multiplizieren und in der Vergangenheit auszusetzen, vielmehr kämpft es selbst ums Überleben und benötigt Menschen als Helfer in den verschiedenen Zeiten, um seine Art und vielleicht sogar die ganze Insel zu retten.
2024 ist nämlich kein gutes Jahr für Anemonen: Ein Tsunami hatte einige Zeit zuvor biologische Kampstoffe, die im Auftrag von Venezuela auf der Insel gelagert wurden, freigesetzt und ins Meer gespült. Alle Lebewesen starben und eine Besserung der Situation ist nicht in Sicht. Besonders gruselig finde ich die Darstellung, dass haitianische Flüchtlinge trotz der Vergiftungsgefahr versuchen, in die Dom. Rep. zu fliehen. Niemand überlebt den Kontakt mit dem kontaminierten Salzwasser und der Präsident des kleinen Staates lässt mittlerweile Roboter einsetzen, die die Toten oder Nochlebenden zur Entsorgung einsammeln.
Die letzte Anemone 2024 ist im Besitz eben jener Voodoo-Priesterin, die Acilde in ihre Dienste aufgenommen hat. Die alte Dame ist keine Geringere als die engste Beraterin des Präsidenten. Er hatte die Santeria, eine Religion mit afrikanischien Wurzeln, die neben den traditionellen Göttern (Orishas) auch die Heiligen der katholischen Kirche verehrt, zur Staatsreligion gemacht. Und obwohl jeder Akteur vor allem seine persönlichen Ziele verfolgt – Acilde schafft es beispielsweise, ihre Geschlechtsumwandlung durchzusetzen – ist es doch letztlich die Anemone, die letztlich die Strippen, respektive Tentakel, zieht.
Rita Indiana mischt hier gekonnt Zutaten aus verschiedenen Genres miteinander. Die Idee der Zeitreise ist natürlich ganz und gar nicht neu. Aber dass sie durch die vegetativen Fähigkeiten eines Weichtieres geschieht, das ja auch in der Realität unsterblich ist, weil es sich nicht nur geschlechtlichen fortpflanzt, sondern auch einfach einen Teil von sich abschnüren kann, der wiederum zu einem kompletten, identischen Wesen heranreift. Man könnte also heute durchaus Anemonen finden, die mit jenen aus dem 17. Jahrhundert identisch sind. Möglicherweise war für die Autorin bei der Wahl ihrer biologischen "Zeitmaschine" auch eine weitere Fähigkeit der Anemone interessant. Diese kann sich sowohl durch Knospung, getrennt geschlechtliche Vermehrung, als durch zwittrige Formen vermehren. Das Geschlecht von Acilde/Argenis hat ebenfalls keinerlei reproduktive Bedeutung und sollte daher frei gewählt werden können.
Acilde wird letztlich durch die Berührung der Tentakel selbst Teil der Anemone, die sich von Zeitebene zu Zeitebene knospt. Ich finde dieses Konzept der Zeitreise - oder genauer: des Zeitsprungs - im Gegensatz zu einigen anderen Rezensenten nicht nur äußerst phantasievoll, sondern zugleich innerhalb des Erzählrahmens auch logischer als so manche technische Lösung. Gelegentlich hätte ich mir ein bisschen mehr Führung zwischen den Zeitstufen gewünscht, daher auf jeden Fall der Tipp: Lest das Buch lieber, wenn ihr frisch und wach seid. Erstens kommt man dann nicht durcheinander und zweitens kann das Lesen vor dem Einschlafen durchaus zu Tentakel(alp)träumen führen.
Leseprobe
Das Sicherheitssystem des Gebäudes erkennt den Virus in dem Schwarzen und schießt einen Strahl tödlichen Giftgases ab. Zugleich werden die Nachbarn darüber informiert, dass sie den Eingang des Gebäudes meiden sollen, bis die Sammelroboter, die auf den Straßen und Gassen patrouillieren, den Körper abgeholt und zerlegt haben.
Als der Mann zu zucken aufhört, loggt Acilde sich aus und macht sich wieder daran, die großen Fenster zu putzen, über die sich jeden Tag ein klebriger Rußfilm legt, der nur dank Windex weicht. Als sie den Glasreiniger mit dem Tuch abwischt, sieht sie, wie auf dem Gehsteig gegenüber ein Sammelroboter einen weiteren Illegalen fängt, eine Frau, die sich erfolglos hinter einem Müllcontainer versteckt hat. Der Roboter hebt die Frau mithilfe seines Metallarms in die Höhe und deponiert sie mit der Schnelligkeit eines vernaschten Kindes, das sich ein schmutziges, auf dem Boden liegendes Bonbon in den Mund steckt, in der mittleren Kammer seiner Apparatur.
S. 8
Facts zur Autorin
Die wichtigste spanische Zeitung El País zählt Rita Indiana zu den 100 einflussreichsten Menschen Lateinamerikas. Die Autorin wirkt nicht nur durch ihre Bücher, die alle Genregrenzen aushebeln, sondern auch als Komponistin und Sängerin.Angemerkt
Normalerweise
schreibe ich wenig darüber, was die Autorinnen neben dem Schreiben mit
ihrem Leben anfangen. Das würde den Blog und meine Möglichkeiten einfach
sprengen. Heute möchte ich über das Übliche hinaus aber noch Folgendes anmerken:
In Tentakel ist die Frau von Argenis'
Mäzän (seine Lieblingsfeindin!) eine Video- und Musikkünstlerin. Ob Indiana
sich hier über sich selbst lustig macht oder ganz allgemein die
Musikszene kritisiert, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall hat sie sicher ihre eigenen Erfahrungen mit der Musikproduktion einfließen lassen:
2000 zog sie nach Puerto Rico und begann mit Musik zu experimentieren, obwohl sie nie ein Instrument gelernt oder sich je zuvor für Musik interessiert hatte (so zumindest die Legende). Sie produzierte zunächst die Single Altar Epandex in duo with Miti Miti allein mithilfe von Computersoftware und erzeugte eine Art Elektro-Merengue, der ihr Markenzeichen werden sollte.
Diese Single war sofort ein Erfolg und wurde 2008 von der New York City's Daily News in die Top 5 der Indie Juwels gewählt. In der Folgezeit wird Rita Indiana sogar als Neuerfinderin des Merengue gefeiert. Tatsächlich sind ihre Kompositionen und Interpretationen von afro-karibischen Rhythmen immer tanzbar und enthalten stets Anleihen an die Dominicanischen Popmusik, an Meringue oder an Salsa. 2009 tut sich Indiana mit der Gruppe "Los Misterios" zusammen. Gemeinsam produzieren sie weitere Singles und 2010 schließlich das erste Album mit dem Titel "El Juidero". Dieses Album ging sofort viral auf mehreren Plattformen.
Heute sind Rita Indiana und Los Misterios längst über die Grenzen der Dominicanischen Republik hinaus bekannt. Hauptinhalte ihrer Songtexte sind vor allem Fragen der kulturellen und sexuellen Identität. Einer der bekanntesten Songs "La hora de volvé," (Die Stunde der Rückkehr) kommentiert die Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Der Text erzählt von den Problemen, mit denen die Menschen in der Dominikanischen Republik konfrontiert sind, und wie sie sich dann in den USA mehr schlecht als recht durchschlagen. Offenbar hat sich der Song mittlerweile zu einer Art Hymne für die Ausgewanderten entwickelt.
Weitere Bücher der Autorin
Romane
La estrategia de Chochueca, Riann, 2000
Papi, Vértigo, 2005; Periférica, 2011
Nombres y Animales, Periférica, 2013
La mucama de Omicunlé, Periférica, 2015
Tentacle (English translation of La mucama de Omicunlé),
And Other Stories, 2019
Made in Saturn, And Other Stories, 2020 (forthcoming)
Kurzgeschichten
Rumiantes, Riann, Santo Domingo, 1998.
Ciencia Succión, Amigo del Hogar, 2001.
Cuentos y poemas (1998-2003), Ediciones Cielonaranja, Santo Domingo, 2017.
Preis
2015 Großer Literaturpreis der Region Guadeloupe für den Roman La mucama de Omicunlé
Weitere Autorin der Dominikanischen Republik
Julia Alvarez
Links zur Autorin
Links zum Buch
https://www.fr.de/kultur/literatur/welt-wird-nicht-retten-sein-11008931.html
Kommentare
Kommentar veröffentlichen