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Dschibuti

 

Ihr Lieben,

heute besuchen wir

Dschibuti

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

und lesen

Mouna-Hodan Ahmed: "Les enfants du khat". Saint-Maur-des Fossés: Sepia. 2002

 


 

 

 

 

 

  


Rezension

Asli ist die älteste Tochter in einer großen dschibutischen Familie. Ihre Aufgabe ist es, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern, während die Mutter Khat verkauft, um die Familie durchzubringen. Wie die meisten Männer im Viertel ist Aslis Vater khatsüchtig. Er trägt nichts zum Unterhalt der Familie bei, gibt stattdessen einen Großteil des von der Mutter verdienten Geldes für seine Sucht aus und verprügelt obendrein Frau und Kinder, wann immer diese es wagen, ihn zu kritisieren. "Warum sollte man sich anstrengen, um vielleicht irgendwo einen Job zu suchen, wenn es der Frau doch gelingt, den Kochtopf zu füllen?", ist sein Motto.

Asli durchschaut das Paradoxon, in dem ihre Familie, ja sogar das ganze Land, lebt. Khat ist nicht nur der Ursprung all dessen, was schief geht in ihrem Leben, es ist auch die einzige Einnahmequelle der Familie und sichert das nackte Überleben. Nur zu gern würde Asli eine Schule besuchen, um einen Beruf zu erlernen und aus der Khat-Spirale von Handel und Sucht zu entkommen. Aber sie muss sehr früh auf Bildung verzichten, weil ihre beiden älteren Brüder nach Kanada auswandern. Und deren Start in ein neues Leben finanziert natürlich ebenfalls die Mutter mit Khat. Für Asli bleibt offenbar nur ein ähnliches graues Schicksal wie das der Mutter.

Bei einem ersten Ausbruchsversuch aus diesem trostlosen Dasein landet Asli in der Nachtclubszene der Hauptstadt und sieht, wie die Söhne und Töchter der reichen Eliten leben. Eine Weile lässt sie sich mitreißen, aber nach kurzer Zeit fühlt sie sich in dieser Welt der Gier, Korruption und des ganz großen Drogendeals ebenso fehl am Platz wie zu Hause. Sich als Geliebte oder gar Prostituierte wieder in neue Abhängigkeiten zu begeben, kann sie sich nicht vorstellen. Asli sucht nach Freiheit.

Tatsächlich findet sie diese schließlich in der Religion. Sie nimmt den Schleier und indem sie sich den Regeln des Islam unterwirft, fühlt sie sich unabhängig von den Zwängen einer frauenfeindlichen Gesellschaft voller Gewalt. Das Tragen des Hidschab gibt ihr Selbstvertrauen und die Kraft, gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Sie beschützt ihre Schwester Idylle, als diese ungewollt schwanger wird. Sie unterstützt ihre zweite Schwester Khadîdja, die eine ausgezeichnete Schülerin ist, dabei, ihren Schulabschluss zu erreichen. Und sie bewahrt die jüngste Schwester vor der Beschneidung.

Es ist nicht neu, dass Frauen in einer patriarchalen Welt einen Religiösen Stand anstreben und dann zeigen, was sie eigentlich können. Im deutschen Mittelalter floh beispielsweise Elisabeth von Thüringen vor einer politischen Heirat und kümmerte sich fortan um Kranke und Arme. Im Verlauf dieses Blogs haben wir ja auch schon erfahren, wie die Protagonistin von Tsomos Karma 

Reading The Women of The World

ihre Bestimmung gefunden, indem sie Nonne wurde. Und Asli bewirkt in der Folgezeit tatsächlich einiges in ihrer Familie: Ihre Mutter beschließt, den Verkauf von Khat einzustellen und eine kleine Garküche an den Docks zu eröffnen. Der Vater kommt zwar nicht vom Khat los, arbeitet aber an seinen suchtbedingten Stimmungsschwankungen und greift nicht mehr bei jeder Gelegenheit zum Stock.

Interessant finde ich vor allem, dass die Autorin mit dem Klischee aufräumt, das gläubigen muslimischen Frauen auf jeden Fall hier in Europa, aber offenbar auch im Heimatland der Protagonistin anhaftet, nämlich eher schwach und verletztlich zu sein. Für Asli stimmt das so nicht. Die Probleme, mit der sich ein Mädchen oder eine junge Frau in Dschibuti konfrontiert sieht, erscheinen grenzenlos: Khat-Sucht, häusliche Gewalt, Sexismus, Beschneidung, Jugendarbeitslosigkeit, Chancenungleichheit, Arbeitslosigkeit, Krieg. Asli findet im Islam ihren persönlichen Wegweiser durch das Chaos und die Chance, ihr Leben sinnvoll zu gestalten und die Welt ein bisschen besser zu machen. Und obwohl ich nicht glaube, dass für freies Denken und Mut unbedingt eine religiöses Gefühl nötig ist, verstehe ich doch, dass das helfen kann. Auf jeden Fall fand ich die Lektüre bereichernd, weil sie mir als Leserin aus nördlichen Gefilden durchaus neue Blickwinkel eröffnete. 

 

Leseprobe

Ich sah, dass der Weg, den ich vorher beschritten hatte, eine Sackgasse war. Ich drehte mich im Kreise, ging auf dem Pfad weiter, kehrte wieder um und setzte mich auf halbem Weg hin. Ich war immer verwirrter und fragte wohlwollende Passanten. Sie nahmen mich an der Hand und zeigten mir den richtigen Weg. Ich rühme mich nicht, bessere Ideen zu haben als ihr, aber ich habe nun eine Antwort: Mein Heil liegt auf dem Weg, den Gott der Allmächtige mir vorgezeichnet hat.

S.43

 

Facts zur Autorin

Mouna-Hodan Ahmed wurde 1972 in Dschibuti geboren und besuchte dort die Schule. Ihr Hochschulstudium absolvierte sie in Frankreich und unterrichtet heute Französisch an einem Allgemeinen Gymnasium in Dschibuti. "Ich schreibe, um besser mit anderen zusammen zu sein", sagt sie über sich als Autorin. In ihrem ersten Roman prangert sie direkt das wahrscheinlich größte Problem in der dschibutischen Gesellschaft an: Die Abhängigkeit Erwachsener von der Droge Khat und der Ko-Abhängigkeit ihrer Kinder.

  

Angemerkt

Nur um die Problematik richtig einschätzen zu können, ein paar Zahlen: In Dschibuti ist Khat ein wesentlicher Wirtschaftszweig. Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass der Khathandel fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes ausmacht. 15 Tonnen dieser Droge werden angeblich jeden Tag eingeführt.

 

https://www.spiegel.de/ausland/drogenhandel-in-dschibuti-wo-frauen-ihre-maenner-durch-die-pandemie-bringen-a-348e4d72-58c1-4797-b1f0-5e3178ef24d1

 

Links zum Buch

https://aflit.arts.uwa.edu.au/reviewfr_ahmed10.html

 

Links zum Thema

http://news.bbc.co.uk/2/hi/africa/6142688.stm

 

 

 

 

 

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