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Ecuador

Liebe Lesende, 

unser heutiges Reiseziel ist


Ecuador

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

und wir lesen

Gabriela Alemán: Poso Wells. Übersetzt von Dick Cluster. City Lights Books. San Francisco. 2018










Rezension

Die Kooperative Poso Wells ist eine schmuddelige Siedlung, errichtet auf den Schlämmsandes eines Flusses, weit draußen im Dschungel Ecuadors, wo sich Wasserschwein und Anaconda „Gute Nacht“ sagen. Doch selbst an dieser von allen guten Regenwaldgeistern verlassenen Gegend geht nicht vorbei, was auch wir gerade erst erdulden mussten: Wahlkampf.

Ich weiß nicht, wie es Euch mit dem Wahlkampf zur diesjährigen Bundestagswahl erging, aber ich war zutiefst genervt von all den Lügen und falschen Versprechungen. Vielleicht ist es da verzeihlich, dass sich beim Lesen von Poso Wells meine gesamte Frustration in schallendem Gelächter entludt, als den führenden Präsidentschaftskandidaten gleich zu Beginn ein spektakuläres Ende ereilt. Für Eure niederen Gefühle habe ich die Stelle unten zitiert. (Und – nur um sicher zu gehen, dass das nicht falsch verstanden wird: In der Realität wäre so ein Ereignis natürlich einfach nur schrecklich, aber als Fiktion eben ein sehr gelungener Einstieg in die Geschichte).

Mit dem Politiker, der sein plötzliches Ableben selbst provozierte, kamen auch direkt alle Gegenkandidaten zu Tode - außer einem. Der Überlebende bleibt eine Weile unauffindbar und als er zurückkehrt, wird er als eine Art neuer Messias gefeiert. Politischer Erfolg für den, dessen Hauptverdienst es ist, überlebt zu haben (Kommt Euch das auch irgendwie vertraut vor?) Dabei gäbe es in Poso Wells so viel zu tun. Da die Siedlung im Wortsinn auf Sand gebaut ist, wäre eine Trockenlegung des Sumpfes, ebenfalls wortwörtlich, schon mal die wichtigste Basis für das Überleben der Gemeinde.

Ansonsten leidet die Bevölkerung vor allem unter Bandenkriminalität.  Angst verbreitet außerdem das mysteriöse Verschwinden von Frauen aus der Siedlung. Die wildesten Spekulationen sind im Umlauf, aber niemand kümmert sich wirklich darum, die Frauen wiederzufinden und den oder die möglichen Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Licht ins Dunkel dieser Ereignisse bringt schließlich der Journalist Gustavo Varas, der ursprünglich zur Wahlberichterstattung nach Poso Wells gekommen war. Dann erhält er den Auftrag, die aufwändige Suche nach dem einen verschwundenen Mann zu begleiten. Der Journalist ist aber kein Freund des Politikers und interessiert sich viel mehr für das Verschwinden der vielen Frauen.

Tatsächlich gelingt es Varas, gemeinsam mit dem unerschrockenen Straßenhund Témoc (Eigentlich: Cuauhtémoc nach dem besonders tapferen elften aztekischen Gottkönig), der lokalen Rebellin gegen die Bandenkriminaliät, Bella Altamirano, und dem Poeten Benito del Pliego, das Geheimnis um die verschwundenen Frauen zu lüften.

Mehr möchte ich aber nicht verraten, denn diesmal kann ich Euch uneingeschränkt raten: Lest das Buch selbst! Ich war begeistert von dem trockenen Humor, der feinen, bisweilen bösen Ironie, den Metaphern, die immer treffen. Auch die Namen sind wunderbar. Die temperamentvolle Bella Altamirano hat schon gelegentlich was von einem schönen Hochwasser. Der glücklose Gehilfe des zunächst verlorengegangenen und dann wieder aufgetauchten Kandidaten heißt beispielsweise Don José María, was nicht nur mafiös, sondern auch nach einem katholischen Fluch klingt. Eine wichtige Rolle spielen auch geheimnisvolle blinde Männer, die einander führen – eine mittelalterliche Allegorie, die hier eine interessante Bedeutungserweiterung erfährt.

Ihr seht schon: Ich bin begeistert. Umso unverständlicher finde ich es, dass es von diesem außergewöhnlichen Buch noch immer keine deutsche Übersetzung gibt!!!

 

Leseprobe

In dieser Hitze würde alles, was die Kleidung aufsaugt, sofort verdunsten. Der Rest würde durch die Ritzen der Bühne sickern. Während er voranschreitet und der grölenden Menge zuwinkt, setzt er den einmal gefassten Plan in die Realität um. Die Gruppe seiner Anhänger schließt zu ihm auf und formiert sich in einem großen Kreis um ihn herum. Jemand gibt ihm ein Mikrofon. Elektrizität ist in der Luft spürbar. In diesem Moment bleibt er stehen und die Pfütze unter ihm erreicht eine kritische Größe. Das würde ihn unter anderen Umständen nicht weiter belasten, tatsächlich würde niemand etwas bemerken. Dummerweise hielt er aber ein Kabel in der Hand, das direkt mit einer Hochspannungsleitung der Straßenbeleuchtung verbunden war und stand gleichzeitig in einer Flüssigkeit.

Schlechte Kombination.

Bevor die Leitungen explodierten und die Lichter ausgingen - dieselben Lichter, die die Organisatoren des Events von den Pfosten gestohlen hatten, die die Behörden erst wenige Monate zuvor errichtet hatten, sahen die Menschen, wie sich der Kandidat über die Bühne erhob, umhüllt von einem himmlischen Strahlenkranz. Die Strahlen fuhren wie Blitze in die Schar seiner Anhänger.

Wirklich ein Anblick, an den man sich erinnern würde. Ein Anblick von fremdartiger, extremer Schönheit. Außergewöhnlich.

S. 18

 

Facts zur Autorin

Gabriela Alemán studierte Übersetzung an der University of Cambridge, erhielt einen Master in Lateinamerikanischen Sprachen an der Andina Simón Bolívar Universität in Ecuador and promovierte an der Tulane University in New Orleans. 2006 war sie Stipendiatin des Guggenheim Stipendiums für Film-, Video- and Radiowissenschaft.

Ihre universitäre Laufbahn finanzierte sie mit allen möglichen Jobs. Und für alle, die glauben, Studenten könnten sich nur mit Kellnern über Wasser halten, hier einige Alternativen. Kellnern gehörte zwar auch bei Alemán dazu, darüber hinaus arbeitete sie allerdings auch als professionelle Basketballspielerin in der Schweiz und in Paraguay. Außerdem war sie Managerin, Übersetzerin, Autorin für Radiosendungen, Redakteurin, Assistentin der Direktion, Korrektorin und Journalistin.

Später unterrichtete Alemán an der Universität von San Francisco de Quito und in Tulane. Bei so viel Lebenserfahrung ist es kein Wunder, dass sich die Autorin glaubwürdig in viele, durchaus sehr unterschiedliche Charaktere eindenken und -fühlen kann.

 

Weitere Bücher der Autorin

 

Romane

Body time, Planeta, 2003

Aristas Martínez, 2012

City Lights. Übersetzt von Dick Cluster, 2018

Humo. Literatura Random House, Bogotá, 2017

 

Kurzgeschichten

En el país rosado. Exlibris, 1994

Maldito corazón. El Conejo, 1996

Zoom. Eskeletra, 1997

Fuga permanente. Euterpe, 2001

Eskeletra, 2002

Álbum de familia. Estruendomudo, Lima, 2010

Panamericana. 2011

Cadáver Exquisito, 2012

La muerte silba un blues. Literatura Random House, 2014

 

Theaterstück

La acróbata del hambre. 1997

 

Essays

Cine en construcción: largometrajes ecuatorianos de ficción 1924-2004. 2004

 

Preise

2014 Erster Preis beim CIESPAL de Crónica Award für ihren Artikel "Los limones del huerto de Elisabeth"

2014 Joaquín Gallegos Lara Preis für ihre Kurzgeschichtensammlung "La Muerte silba un blues"

 

Weitere Autorinnen aus Ecuador

Ana Cecilia Blum

Fanny Carriòn de Fierro 

Ileana Espinel (1933-2001)

Edna Iturralde

Aleyda Quevedo (*1972)

Carmen Váscones Martinez (*1958)

Eugenia Viteri (*1930)

Alicia Yánez Cossio (*1929)


Links zur Autorin

Gabriela Alemán - Words Without Borders

 

Links zum Buch

Literature Is the Minefield of the Imagination: An Interview with Gabriela Alemán (lareviewofbooks.org)

 


 

Kommentare

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