Ihr Lieben,
unsere Lesereise führt uns heute nach
El Salvador
und wir begegnen
Vanessa Núñez Handal mit Dios tenía miedo. La Pereza Ediciones. 2011
God was afraid. Übersetzt von D.W.
Jefferson. Peace Corps Writers
(Dt. Gott hatte Angst) Eine deutsche Übersetzung gibt es, wie viel zu oft, leider nicht.
Rezension
Als in Berlin die Mauer fiel und in den Ländern des Ostblocks die Rede von Glasnost war, unterstützte die Regierung der Vereinigten Staaten das Regime in El Salvador bei seine Kampf gegen die Rebellen.* Diese wurden pauschal als „Kommunisten“ bezeichnet, was in Amerika offenbar als ausreichender Grund für ihre Bekämpfung angesehen wurde. Einige Historiker sehen im Bürgerkrieg von El Salvador (1980-1991) den letzten Konflikt des Kalten Krieges, obwohl die Supermächte ja bereits begannen, offiziell die Hände zu schütteln.
Vanessa Núñez Handal lässt die Leserinnen am Schrecken dieses Konflikts durch die Augen ihrer Protagonistin Natalia teilhaben. Diese erinnert sich an ihre Kindheit in der Hauptstadt San Salvador - und als Lesende ist man dankbar, dass dadurch eine gewisse Distanz geschaffen wird. Das Mädchen Natalia wird in der Nacht vom Lärm der Kampfhubschrauber aus dem Schlaf gerissen. In der Ferne sieht sie Explosionen, wenn Raketen einschlagen. Sie weiß, dass die Rebellen das Ziel dieser Bombadierungen sind, hat aber große Angst, dass die Hubschrauber einen Fehler machen und auch das Haus ihrer Familie unter Beschuss nehmen.
Die erwachsene Natalia ist für uns Leserinnen allein schon wegen ihrer Existenz eine Beruhigung. Das kleine Mädchen von damals hat offensichtlich den Wahnsinn überlebt. Allerdings hat die erwachsene Frau mittlerweile einen ganz anderen Blick auf die Vergangenheit. Ihre Erinnerungen an den Bürgerkrieg sind vor allem von Scham geprägt. Sie kann nicht verstehen, wie ihre Eltern zu Mitläufern werden konnten. Sie recherchiert die Geschichte ihres Landes und ihr wird zwar klar, dass eine oppositionelle Haltung vermutlich zu Exil
oder Tod geführt hätte, aber sie kann ihren Eltern nicht verzeihen. Fragen wie: Wie hätte ich mich selbst in so einer Situation verhalten? Wie gerecht ist die Kritik der Nachgeborenen? Wie gehe ich mit ererbter Schuld um? drängen sich auf.
Die Geschichte wird in einzelnen Szenen erzählt, die von besonderer Bedeutun für Natalia oder ihre Familie waren. Die erwachsene Erzählerin kommentiert und hinterfragt diese Wendepunkte. Je nachdem, wie viel man selbst von der Geschichte El Salvadors weiß oder eben nicht weiß, können diese Kommentare helfen, Situationen besser zuzuordnen. Insgesamt stören mich solche Reflexionen aber auch oft. Ein Buch über Mitläufer im Nationalsozialismus mit solchen Kommentaren hätte ich vermutlich zur Seite gelegt.
Insgesamt fand ich es interessant, die Diskussion über Täterschaft und Mitläufertum mal in einem anderen Zusammenhang zu lesen. Es gibt natürlich Ähnlichkeiten. Auch in Deutschland haben sich ja die Mitläufer immer damit verteidigt, dass sie Angst gehabt hätten, selbst zu Opfern zu werden. In "Gott hatte Angst“ zeigt Vanessa Núñez Handal, wie allumfassend Angst sein kann. Aber wenn sogar Gott Angst hat, ist es für uns vermutlich die einige Chance, die Angst zu überwinden, um Mensch bleiben zu können.
Leseprobe
Sie schießen und es ist Nacht. Die Hubschrauber werfen ihre Raketen mit Detonationen ab, die fast so klingen, als fielen die Geschosse durch eine Art Abgrund im Himmel. Meine Eltern schweigen. Die Lichter in unserem Haus sind ausgeschaltet und das gilt für alle Häuser im Umkreis von zehn Blocks. Der französische Pudel bellt hysterisch. Wie wir wurde er davon geweckt, dass die Wände bebten.
Ein Ton ist zu hören und er schwillt stetig an. Etwas stürzt auf das Dach. Ich verstecke mich unter meinem Bett. Ich weiß, wenn jetzt eine Bombe explodiert, bleibt nichts mehr übrig. Dann folgt Stille. Die Nacht über unserem Haus ist erstarrt. Das Monster hat sich wie eine schwarze Spinne über den Himmel bewegt. Von seinem Grollen ist nur noch ein Echo zu hören. Der Hubschrauber ist weg. Jetzt verbreitet er anderswo Angst und Raketenfeuer.
S. 3
Facts zur Autorin
Vanessa Núñez Handal ist Juristin, Autorin, Herausgeberin und Universitätsdozentin. Sie hat einen Master in Politikwissenschaften und Lateinamerikanischer Literatur. Unter anderem koordinierte sie das Projekt "Kunst und Kultur für den Frieden", das sich der Aufgabe widmet, mit kulturellen Angeboten und Kunst Gewalt vorzubeugen.
2015 entwickelte die Autorin gemeinsam mit der Künstlerin Mishad Orlandini unter dem Titel „MärchenBox“ ein Objektbuch. Das Kunstobjekt enthält drei Kurzgeschichten von Núñez Handal: "Selma", "Eine Katze in meinem Garten" und "Latex".
Weitere Bücher der Autorin
Los locos mueren de viejos. Guatemala, 2008
(Dt. Die Narren sterben am Alter)
La caja de cuentos
(Dt. Die Märchenkiste)
Espejos
(Dt. Spiegel)
Weitere Autorin aus El Salvador
Claudia Lars
Angemerkt
Weil die Auswirkungen von Kriegen ja immer viel zu schnell vergessen werden, hier noch ein paar Zahlen: Im Bürgerkrieg von El Salvador kamen von 1980 bis 1991 über 70.000 Menschen ums Leben (das waren über 1,5 % der Bevölkerung). Wahrscheinlich müsste die Zahl viel höher angesetzt werden, denn viele galten einfach als „vermisst“. Tausende Verletzte mussten versorgt werden. Darüber hinaus warfen die Zerstörungen das Land wirtschaftlich enorm zurück. Über eine Million Menschen flüchteten.
Link zur Autorin
Vanessa Núñez Handal presenta La Caja de Cuentos - YouTube
Vanessa Núñez Handal - Uruk Editores
Links zum Buch
Review: How a book on Salvador’s civil war helped me understand my own family history – Hola Cultura
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