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Finnland

Liebe Lesende,

heute sind wir wieder einmal in Europa zu Gast und zwar in

Finnland

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

  

und ich habe mir/uns einen Krimi gegönnt:

Leena Lehtolainen: Alle singen im Chor. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002

Original: Ensimmäinen murhani. Tammi Publishers, 1993

Wer das Genre mag und vor allem gern Kommissarinnen bei ihren Ermittlungen über die Schulter schaut, müsste eigentlich auch Lehtolainen kennen. Heute gibt es ja zahlreiche Profi-Ermittlerinnen als Serienheldinnen, aber in den 1990er Jahren waren die Kommissariate in der realen, wie auch in der fiktiven Welt fast völlig in männlicher Hand. Lehtolainen war eine der ersten Autorinnen, die eine Protagonistin in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellte: Maria Kallio.

 



 

 

 

 

 

 

Rezension

Maria Kallio ist erst durch einige Irrungen und Wirrungen bei der Polizei gelandet. Nach dem Abitur hatte sie die Polizeischule besucht und auch kurz als Polizistin gearbeitet. Dann begann sie am Polizeialltag zu verzweifeln und startete stattdessen mit einem Jurastudium. Kurz vor den Abschlussprüfungen scherte sie erneut aus, brach das Studium ab und bewarb sich auf eine Vertretungsstelle bei der Kriminalpolizei. Noch immer weiß sie nicht genau, welchen Weg im Leben sie letztlich einschlagen will. Offenbar sucht sie Zwischenlösungen, will sich nicht für ihre gesamte Zukunft festlegen. Die Vertretungsstelle ist allerdings anstrengender als gedacht und sie hat angesichts der vielen Körperverletzungs- und Vergewaltigungsfälle gar keine Zeit mehr zum Nachdenken. Schließlich wird ihr, obwohl sie unerfahren ist und nur eine befristete Vertretungsstelle hat, völlig unerwartet die Leitung ihres ersten Mordfalls übertragen. 

Die Gründe dafür liegen weniger bei ihr als bei der Polizei. Es gibt einfach nicht ausreichend viele Beamte. Der Chef der Abteilung ist Alkoholiker und kümmert sich um nichts, fällt manchmal tagelang aus. Der offenbar längerfristig erkrankte Kollegen, den sie ersetzt, reißt eine weitere Lücke und der verbleibende erfahrene Kommissar tritt, kaum dass sie da ist, einen langersehnten, immer verschobenen  Urlaub an. Außerdem gibt es in den Kommissariaten zu wenig Frauen. Rein für die Außenwirkung der Polizei macht sich Maria für die Behörde ganz gut als Alibifrau. Jede Menge Druck also!

Zu allem Überfluss muss Maria dann auch noch einen Fall bearbeiten, bei dem sie nicht nur das Mordopfer, sondern auch die meisten Tatverdächtigen persönlich kennt. Sie alle singen (bzw. sangen) in einem Studentenchor. Maria war während ihres Jurastudiums zwar kein Mitglied, wohl aber ihre beste Freundin und Mitbewohnerin. Und die singende Gemeinschaft war oft in der kleinen Wohnung zu Gast.

Die Krimi-Handlung entspinnt sich als klassischer Whodunit. Die Chormitglieder hatten sich in ein abgeschiedenes Ferienhaus zurückgezogen, um gemeinsam zu proben. Eine Person liegt am Morgen nach der Ankunft erschlagen am Bootssteg. Maria muss sich durch ein Netz von Lügen und Intrigen kämpfen, um herauszufinden, wer ein Motiv und die Gelegenheit zur Tat hatte.

Auf dem Weg zur Lösung gibt es durchaus einige interessante Wendungen, aber man merkt schon, dass der Krimi in den 1990ern geschrieben wurde. Alles geht ein wenig langsamer voran. "Richtige Polizeiarbeit" wie Papierkram und Zeugenbefragungen werden thematisiert und nicht einfach im Ergebnis präsentiert. Maria fährt erstaunlicherweise sogar meist mit den Öffis zu ihren Einsatzorten, in einem US Krimi oder in einem deutschen Roman gar nicht vorstellbar. 

In anderen Worten: Wer auf schnelle Autos und Hightech-Ermittlungen im CSI-Stil steht, kommt hier nicht auf seine Kosten. Es fließt auch nicht so viel Blut wie in vielen der aktuellen Erzeugnisse des Genres aus dem Norden. Aber auch die Freunde von Cosy Crimes sind im engeren Sinn nicht die Zielgruppe, denn Maria Kallio ist als Figur nicht überspitzt und glamourös genug, um leicht und ironisch-komisch durch den Fall zu flanieren. Sie ist eher eine "Geworfene" nach dem Muster der grüblerischen französischen Kommissare.

Wer sich allerdings auf den Rhythmus des Romans einlässt, wird sich sicher gut unterhalten und Freude am mit-ermitteln haben. Die Leserinnen erhalten die gleichen Informationen wie die Kommissarin und somit eine faire Chance, den Fall zusammenzupuzzlen. Außerdem ist es spannend zu sehen, wie Maria Kallio ihren Weg in der Männerwelt der Kommissariate findet. Ihre Haltung ist typisch 80er. Gläserne Decke und systemischer Sexismus hätten ihr vermutlich nichts gesagt. Frauen, die in Männerberufe vordrangen waren auf sich selbst gestellt. Einsame Wölfinnen, die das System nicht kritisierten, sondern im Kleinen unterliefen. Fünf Zentimeter fehlen, um Polizistin zu werden - dann mogeln wir sie halt dazu.

Ich glaube, dass es bei Leena Lehtolainen und ihrer Protagonistin Maria Kallio noch eine Menge zu entdecken gibt und werde nach meiner Reise um die Welt sicher noch den ein oder anderen Band lesen.

 

Leseprobe

Jetzt saß ich in der Straßenbahn, starrte zum Fenster hinaus und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Die Abendblätter waren noch nicht erschienen, aber ich fürchtete, dass mindestens in einer der beiden Redaktionen schon jemand über der Story saß. Der Sommer war zur Hälfte vorbei, ganz Finnland machte Urlaub, es war Sauregurkenzeit. Ich hatte keine Lust, mich in den Schlagzeilen zu finden. <<Frau leitet Ermittlungen: Mord noch ungeklärt.>> und dergleichen.

In Pasila herrschte schon Hochbetrieb, als ich ankam. Auf meinem Schreibtisch lag eine Notiz. Ich solle meinem Vorgesetzten über den Fall Bericht erstatten. Ich setzte mein Dienstgesicht auf und marschierte in das verqualmte Chefbüro. In nüchternem Zustand vertrug ich weder Zigarren- noch Zigarettenrauch, und ich scheute mich nicht, meine Aversion zu zeigen. Vielleicht fühlte er sich mit seinem Riesenschreibtisch und seiner Zigarre wie der Held einer amerikanischen Detektivserie. Ob er auch eine Kognakflasche im Büro hatte?

Ich versuchte optimistisch, den Fall loszuwerden, indem ich erwähnte, dass ich das Opfer gekannt hatte. Das nutzte mir aber gar nichts, weil von meinen Kollegen niemand frei war. [...] 

<<Du hast jetzt schon Erfahrung. Und Saarinen ist bis Ende September wahrscheinlich noch nicht wieder gesund, sodass wir dich auch noch länger beschäftigen können. Wenn du mit diesem Fall gut zurecht kommst, lässt sich vielleicht auch über eine feste Anstellung reden ... An Frauen herrscht in unserem Beruf ja nicht gerade Überfluss...>> Er zerdehnte die Worte, als spräche er sie ungern aus.


Facts zur Autorin

Leena Lehtolainen hat Literaturwissenschaft an der Universität Helsinki studiert und ihr Studium 1995 mit einer Arbeit über "Die gattungstypischen Besonderheiten in den drei Detektivromanen der finnischen Autorin Eeva Tenhunen" beendet. 

Bereits 1976 veröffentlichte die Autorin im Alter von 12 Jahren ihr erstes Buch, den Jugendroman Ja äkkiä onkin toukokuu („Und plötzlich ist es Mai“). 

1993 schaffte sie mit dem ersten Band ihrer Maria Kallio - Reihe den Durchbruch als Schriftstellerin. Mittelerweile sind 13 weitere Bände erschienen und zahlreiche andere Romane.

Lehtolainen ist eine der bekanntesten finnischen Schriftstellerinnen. Außerdem arbeitet sie als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Kolumnistin.


Weitere Bücher der Autorin

Die Maria Kallio-Reihe

1994 Harmin paikka

Dt. Auf die feine Art. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara.  Rowohlt Verlag, 2003  

1995 Kuparisydän

Dt. Kupferglanz. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Argument Verlag, Hamburg 1999

1996 Luminainen

Dt. Weiß wie die Unschuld. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Verlag, 2003

1997 Kuolemanspiraali

Dt. Die Todesspirale. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Verlag, 2004

1998 Tuulen puolella

Dt. Der Wind über den Klippen. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Verlag, 2004

1999 Tappava Säde

Dt. Zeit zu sterben. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Verlag, 2002 

2000 Ennen Lähtöä

Dt. Wie man sie zum Schweigen bringt. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara, Rowohlt Verlag, 2006.

2003 Veren vimma

Dt. Im schwarzen See. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2006

2005 Rivo Satakieli

Dt. Wer sich nicht fügen will. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2007

2008 Väärän jäljillä

Dt. Auf der falschen Spur. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2009

2010 Minne tytöt kadonneet

Dt. Sag mir, wo die Mädchen sind. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2012

2012 Rautakolmio

Dt. Wer ohne Schande ist. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2014

2014 Surunpotku

Dt. Das Echo deiner Taten. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2016

2017 Viattomuuden loppu

Dt. Das Ende des Spiels. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Rowohlt Verlag, 2018

2018 Turmanluoti

Dt. Zeit zu sterben.

 

Die Hilja Ilveskero-Reihe

2009 Henkivartija

Dt. Die Leibwächterin. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2011

2011 Oikeuden jalopeura

Dt. Der Löwe der Gerechtigkeit. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2013

2012 Paholaisen pennut

Dt. Das Nest des Teufels. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2014

2016 Tiikerinsilmä

Dt. Schüsse im Schnee. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara.  Kindler Verlag, 2017

 

Weitere Werke

2002 Kun luulit unohtaneesi

Dt. Du dachtest, du hättest vergessen. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2007

2007 Luonas en ollutkaan

Dt. Ich war nie bei dir. Übersetzt von Gabriele Schrey-Vasara. Kindler Verlag, 2010

2018 Tappajan tyttöystävä ja muita rikoksia

 

Preis

1997        Finnischer Krimipreis für Luminainen (Weiß wie die Unschuld)

 

Weitere Autorinnen aus Finnland

Inger-Mari Aikio

Minna Canth (1844-1897)

Monika Fagerholm

Theodolinda Hansson (1838-1919) 

Jenni Haukio (1977)

Laila Hirvisaari (1938-2021)

Elina Hirvonen (1975)

Annika Idström (1947-2011)

Emmi Itäranta

Riita Jalonen (1954) 

Maria Jotuni (1880-1943)

Aino Kallas (1878-1956)

Katja Kettu

Kirsi Kunnas (1924)

Eeva Kilpi (1928)

Rosa Liksom

Laura Lindstedt

Ulla-Lena Lundberg

Sofi Oksanen

Riikka Pulkkinen

Salla Simukka

Anja Snellman

Eeva Tenhunen

Maria Turtschaninoff

 

Siehe dazu auch:

13 finnische Gegenwartsautorinnen, die man gelesen haben muss - thisisFINLAND


Angemerkt

Übrigens liest Ulrike Folkerts die Hörbuchfassung von "Und alle singen im Chor".

 

Links zur Autorin

https://besser-nord-als-nie.net/nordnovelle/ein-interview-mit-leena-lehtolainen/

Leena Lehtolainen | Skandinavische Krimis (skandinavische-krimis.com) 

https://www.krimi-couch.de/autoren/5171-leena-lehtolainen/


Links zum Buch

https://hallo-buch.de/lehtolainen-allesingenimchor1.html

 


 

 

 



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