Liebe Lesereisende,
heute besuchen wir
Gambia
und beschäftigen uns mit
Sally (Sadie) Singhateh: The Sun Will Soon Shine. 2004
Rezension
Die Kindheit von Nyima, der Protagonistin dieses Romans, endet abrupt mit ihrer ersten Menstuation. Zuvor war sie ein glückliches Kind, eine gute Schüerin mit besten Aussichten auf eine erfüllte Zukunft. Sie träumte davon, Wissen zu erwerben und an andere weiterzugeben. Ihr Berufswunsch: Lehrerin. Doch dann kommt erst einmal alles ganz anders. Ihr Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, hatte zwar eine gute Ausbildung für seine Tochter geplant, aber die Mutter kann sich nach seinem Tod dem Einfluss ihrer Familie nicht entziehen. Ländliche Traditionen setzen sich durch. Ein Onkel entscheidet, das 13-jährige Mädchen als vierte Frau an einen reichen, alten Mann zu verheiraten, von dem er sich persönliche Vorteile verspricht.
Die Hochzeit wird zügig gefeiert und damit Fakten geschaffen. In der Hochzeitsnacht entdeckt der Ehemann jeodoch, dass seine jüngste Frau nicht beschnitten ist. Er droht, sie zurückzugeben und fordert von der Familie die Erstattung aller geleisteten Zahlungen inklusive der Kosten für die Hochzeit. Das Geld kann oder will aber niemand in der Familie aufbringen und so wird Nyima dem blutigen Ritual unterzogen, das ihre Eltern ihr eigentlich ersparen wollten. Die Wunden heilen schlecht und einige im Dorf sprechen bereits davon, dass Nyima eine Hexe sei, da das "von Gott gewollte Ritual" bei ihr so schlecht funktioniert.
Als sie nach dem brutalen Eingriff zurück zu ihrem Ehemann kommt, scheint sie gebrochen. Immer noch von Schmerzen gepeinigt, muss sie als Jüngste die schwersten Arbeiten im Haushalt machen. Auch die "Ehe" wird nun vollzogen. Nyimas Ansehen schwindet trotz aller "Pflichterfüllung" immer weiter, weil sie, obwohl sie ja nun "rein" ist, dem Hausherren trotzdem kein Kind schenkt. Sie gilt als unfruchtbar und damit als völlig wertlos. Erneut wird sie zu ihrer Familie zurückgeschickt, diesmal um etwas gegen ihre Unfruchtbarkeit zu tun. Sie begibt sich auf eine zermürbende Odyssee zu diversen "Heiligen Männern", die vorgeben, etwas gegen ihre Kinderlosigkeit tun zu können, aber im Grunde nur abkassieren. In der Dunkelheit ihrer Existenz, einem Leben voller Arbeit, Demütigung und Schande, ist die dritte Frau des Alten, der einzige Lichtblick in Nyimas Welt. Sie prophezeit ihr: The Sun soon will shine."
Tatsächlich ändert sich Nyimas Leben einige Jahre später erneut von einem Tag auf den anderen. Die Schwester ihres Vaters, Jainaba, kommt aus der Stadt, um sie für den Besuch der weiterführenden Schule zu sich zu holen. Dies war noch von Niyimas Vater mit der hochkarätigen Anwältin vereinbart worden. Über die Hochzeit hatte man die Tante offenbar nicht in Kenntnis gesetzt. Entsetzt von den Entwicklungen reist die Rechtsanwältin zum Hof des Ehemanns, um die Nichte aus diesen Lebensumständen zu befreien. Da die ländlichen Traditionen durchaus nicht mit den Gesetzen des Landes übereinstimmen, schafft es die Anwältin mit dem Hinweis auf eine entsprechende Anzeige schließlich, dass der Ehemann von seinem angeblichen Anspruch auf Nyima zurücktritt.
Damit wären die meisten Geschichten bereits am Ende, doch Sally Singhateh hat noch so viel mehr zu erzählen. Mal abgesehen davon, dass die Protagonistin die Genitalbeschneidung, die Vergewaltigung durch den alten Ehemann, die demütigenden Behandlungen der angeblichen Heiler natürlich nicht in ihrem Dorf zurücklässt, glaubt die Autorin offenbar auch nicht, dass die moderne Gesellschaft zwangsläufig alle Probleme für Frauen löst.
In der Stadt scheint zunächst alles wunderbar. Jainaba unterstützt ihre Nichte dabei, sich zurecht zu finden. Nyima besucht eine gute Schule und findet eine Freundin, mit der sie auch über ihre Vergangenheit sprechen kann. Einer sonnigen Zukunft scheint nun nichts mehr im Wege zu stehen. Doch so einfach ist das Leben nicht für eine junge Frau. Jainaba muss aus beruflichen Gründen für einige Monate nach Europa. Ihr Ehemann, der zwar stets die Rolle des zugewandten, freundlichen Onkels spielt, nutzt die Abwesenheit seiner Frau, um die Nichte mehrfach zu vergewaltigen. Nyima wird schwanger und Jainaba ist enttäuscht von ihrer Nichte, weil sie sie für leichtsinnig hält. Den Kindsvater benennt Nyima nicht. Sie liebt ihre Tante und möchte ihr nicht noch mehr Unglück bescheren, indem sie den Ehemann entlarvt als das Monster, das er ist.
Auch damit hätte die Geschichte zu Ende sein können. Zwei Männer - einer traditionell, der andere modern - stürzen ein junges Mädchen ins Unglück. Gibt es denn kein Gesellschaftsmodell, das einer Frau Sicherheit gewährt - und Glück in einer funktionierenden Partnerschaft? Um es gleich zu sagen: Der hoffnungsverheißende Titel des Buches täuscht uns nicht. Am Ende wird doch alles gut (was zwar ein bisschen kitschig daherkommt, aber den wunden Seelen der Leserinnen ganz gut tut). Und natürlich gibt es am Ende dann doch das Einhorn, den einen wunderbaren Mann, der Nyima den Glauben an die Menschheit - genauer an deren männlichen Anteil zurück gibt.
Zwei Aspekte finde ich ganz besonders interessant. Zum einen geschieht die Rettung der Protagonistin nicht allein durch ihre eigene Leistung. Sie ist stark, aber nicht die Einzelkämpferin, die einsam die Grenzen ihrer Gesellschaft überwindet. Es ist die Tante, die Nyima aus dem Machtbereich ihres aufgezwungenen Ehemannes rettet. Sie sorgt dafür, dass Nyima die Schule weiter besuchen kann, inklusive Babypause. Das Kind wird tot geboren, aber auch für das Baby hätte Jainaba gesorgt. Nach kurzer Enttäuschung über den angeblichen Leichtsinn der Nichte unterstützt sie Nyima mit großer Entschlossenheit. Schließlich finanziert sie sogar das Studium der Nichte im Ausland und spielt eine wichtige Rolle dabei, dass Nyima zu guter Letzt auch noch ihren Traumprinzen bekommt.
Dass Solidarität, Unterstützung, Mentoring, Networking von Frauen für Frauen die Basis für Fortschritt und Emanzipation ist, scheint mir die Hauptthese des Buches zu sein. Singhateh drängt uns Leserinnen diese (hinlänglich bekannte) Erkenntnis nicht auf, aber wenn man die sonnige Version von Nyima am Ende sieht, denkt man die düstere Version in der einsamen Hütte doch immer mit. Den Unterschied macht allein die Tante.
Der zweite interessante Gedanke dreht sich in diesem Buch, wie ja schon in dem der vergangenen Woche, um das Thema Fruchtbarkeit. Die Autorin führt in Nyima eine ganze Reihe von Aspekten zusammen. Die Fruchtbarkeit des Mädchens wird durch die gefährliche Praxis des Beschneidens gefährdet. Infektionen die bei diesem "Eingriff" häufig vorkommen, können zu Unfruchtbarkeit führen. Trotzdem dient diese Maßnahme angeblich dazu, die Frau "rein" und damit zur akzeptablen Ehefrau zu machen, deren Hauptaufgabe es ist (möglichst männliche) Nachkommen zu gebären. Wenn es dann allerdings nicht klappt, liegt die Schuld allein bei der Frau, nicht etwa an den Folgen der Verstümmelung.
Die erzwungenen "Behandlungen" der "Heiligen Männern" erlebt Nyima als weitere Tortur, als sinnlose Folter. Als sich dann später allerdings der geliebte Mann Kinder wünscht, entschließt sie sich, die Hilfe einer Kinderwunsch-Klinik anzunehmen. Die Autorin spielt mehrere Variablen durch und thematisiert an Nyima den vagen Kinderwunsch einer Kindfrau; die Angst davor, unfruchtbar zu sein; die Angst davor, das Kind eines Vergewaltigers auf die Welt bringen zu müssen; die Verlustgefühle als das Kind dann stirbt, das ja doch vor allem das eigene ist; die Verzweiflung, kein Kind bekommen zu können, obwohl man endlich eine gute Beziehung führt und schließlich die Frustration, dem Partner, den man liebt, kein Kind schenken zu können. All diese emotionalen Situationen, die das Leben von Frauen in der ganzen Welt prägen, erleben wir mit Nyima.
Auch für dieses Thema zeigt Singhateh, wie die Entscheidung für ein Kind getroffen werden sollte, nämlich von der Frau, wenn diese bereit ist. Natürlich sollte diese Entscheidung im Austausch mit dem Mann an ihrer Seite fallen, aber letztlich entscheidet sie. Einzig die Frage nach einem möglichen Schwangerschaftsabbruch wird im Buch nicht gestellt, was auch naheliegend ist, weil die Protagonistin so sehr von dem Gedanken an ihre eigene Unfruchtbarkeit traumatisiert war, dass sogar das Kind, das sie während einer Vergewaltigung empfangen hat, eine Art Wunder war.
Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch - übrigens auch einfach, weil es, wie viele andere Bücher dieser Lesereise, unsere Wahrnehmungsblase aufbricht. Das führt nicht unbedingt nur dazu, mehr über die Frauen anderswo auf der Welt zu erfahren, sondern auch über uns selbst. Unten habe ich mal in loser Assoziation die Genfer Konsenserklärung verlinkt, die von den USA (unter Trump) angeschoben und von vielen Staaten unterzeichnet wurde.
Leseprobe
"Du musst verrückt sein", bestürmte er sie. "Nyima ist jetzt meine Frau, mein Besitz! Ich habe eine Menge für sie bezahlt und es ist undenkbar, dass du sie mir wegnimmst." Er warf mir einen Blick zu, der mich erschaudern ließ bis zu den Zehen. Ich saß direkt neben Jainaba und konnte ihre starke Ausstrahlung spüren. Das und die Bestimmtheit ihrer Stimme waren das einzige, das mich davon abhielt, vor lauter Angst davonzulaufen.
"Außerdem kennst du dieses Mädchen nicht so, wie ich es kenne! Sie ist schlecht, dômma (eine Hexe) - sie bringt Unglück. Ich habe keine Ruhe auf meinem Hof seit sie ihn betreten hat. Sie wird dir ebenfalls Unglück bringen, wenn du sie mitnimmst."
Jainabas Ton war ruhig, aber bestimmt als sie antwortete. "Nyima wird mit mir kommen, Pa Momat! Ich habe gesehen, dass sie nicht gut behandelt wird. Schau sie doch an! Ich nehme sie mit nach Banjul und wenn du die Dinge komplizierst, verklage ich dich! Denk daran, ich arbeite für das Gesetz."
S. 42
Facts zur Autorin
Sally Singhateh begann mit ihrer journalistischen Arbeit schon vor dem Studium bei der Foundation for Research on Women’s Health, Productivity and the Environment (BAFROW), einer Organisation die sich gegen die Beschneidung weiblicher Genitalien einsetzt. In dem Jugend-Magazin The Voice of Young People, das von der Organisation herausgegeben wird, veröffentlichte sie erste Artikel zum Thema.
Singhateh machte den Bachelor of Arts in Kommunikation und studierte dann im Masterstudiengang an der Universität von Wales in Swansea Zeitgenössische Literatur.
Nach ihrem Studium kehrte sie nach Gambia zurück und war 2008 zunächst erneut bei der BAFROW, im Bereich Öffentlichkeitsarbeit, tätig. Seit 2009 arbeitet sie für die UNESCO, ebenfalls in der Öffentlichkeitsarbeit.
Preis
1995 Internationaler Poetry Award von Merit
Weitere Bücher der Autorin
Christie’s Crisis (1998)
Stories from the Gambia (2001)
The Sun Will Soon Shine (2004)
Baby Trouble (2006)
Weitere Autorinnen aus Gambia
Janet Badjan-Young
Rohey Balora
Sukai Mbye Bojang (* 1955)
Ralphina D’Almeida († 2017)
Ndey Kumba Demba
Dayo Forster
Mary Caroline Gomez
Juka Fatou Jabang
Siga Fatima Jagne
Aisha Jawara
Augusta H. Jawara (1924–1981)
Aji Ndumbeh Jobe
Matilda Johnson (* 1958)
Mariama Khan (* 1977)
Augusta Mahoney (1924–1981)
Florence Mahoney (* 1929)
Ann Therese Ndong-Jatta (* 1956)
Ramatoulie Othman
Ralphina Phillott-Almeida († 2017)
Rohey Samba (* 1982)
Amie Sillah
Sally Singhateh (* 1977)
Khadija Sise
Patience Sonko-Godwin (* 1943)
Lala Touray
Phillis Wheatley (1753–1784; war die erste afroamerikanische Dichterin, deren Werke veröffentlicht wurden)
Mary Wadda-Onyeabor
Angemerkt
In Gambia sind 75% der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren von FGM betroffen.
Link zur Autorin
https://web.archive.org/web/20101126135839/http://www.maafanta.com/UnicefFGMReportNursrat.html
Link zum Buch
https://anzlitlovers.com/2020/06/20/the-sun-will-soon-shine-by-sally-sadie-singhateh/
Links zum Thema
https://www.change-magazin.de/de/gleichberechtigung-in-gambia
Unterzeichnung der Genfer Konsenserklärung - Jeder ist gleich wertvoll! (ungeborene.de)
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