Liebe Lesende,
heute reisen wir nach
Georgien
und lesen
Naira Gelaschwili: Ich bin sie. Verbrecher Verlag, Berlin 2017
Rezension
Die Autorin nimmt uns mit in das Jahr 1959. Ihre
Protagonistin Nia ist damals 12 Jahre alt und liebeskrank. Sie verzehrt sich so sehr nach dem Objekt ihrer Liebe, dass sich ihr ganzes Leben ändert. Sie nimmt ab, wird
schlecht in der Schule und zieht sich von ihrer Familie zurück. Als wäre die
Heftigkeit des neuen Gefühls nicht schon genug, hat sich Nia nicht
etwa einen gleichaltrigen Jungen ausgesucht, sondern einen 20-jährigen
Medizinstudenten. Sie vergöttert den jungen Mann, während er sie zunächst vielleicht nicht einmal wahrnimmt. Das Mädchen ist sich völlig im
Klaren darüber, dass der Angebetete für sie unerreichbar ist. Uns Lesenden drängt sich automatisch als erste Assoziation Stalkerin oder fanatischer Fan auf, doch die Autorin macht von Anfang an deutlich, dass sie etwas völlig anderes beschreiben will. Nias Streben ist eher das einer Art Minnesängerin, die den Geliebten aus der Ferne verehrt und sein Loblied singt. Und die Autorin lässt ihre kleine Protagonistin auch gleich in ganz große Fußstapfen treten, indem sie als Schullektüre auf den mittelalterlichen Roman "Der Recke im Tigerfell", das Nationalepos Georgiens, verweist. Auch hier geht es um die reine Liebe, die streng von der sexuellen Begierde zu trennen ist.
Die Liebe der Zwölfjährigen ist in diesem Sinn völlig rein. Die äußerste Form der Annäherung ist es, wenn sie sich einmal nachts in den Schneesturm hinauskämpft, um „Ich liebe dich!“
in den Schnee zu schreiben. Ein anderes Mal stellt sie dem Geliebten, von dem sie lange
Zeit nicht einmal den Namen kennt, Nahrungsmittel vor die Tür, weil er krank ist. Als sie ihm später persönlich begegnet, kann sie seine Nähe kaum aushalten, so stark ist seine Wirkung auf sie. Dieses Chaos der Gefühle ist aber keineswegs eine
kurzfristige pubertäre Laune, sondern zieht sich über ein Jahr hin. Besonders die Ferien sind schlimm, wenn die Familie die Stadt verlässt. Nia wird endgültig anämisch und vermutlich magersüchtig, weil sie nicht
essen oder schlafen kann ohne ihn zu sehen. Und als sie zum ersten Mal menstruiert, will
sie sich umbringen, weil sie sich nun noch weniger wert fühlt im Vergleich zu ihm. Anregung oder
Ablenkung findet sie einzig und auch nur gelegentlich in der Natur und in der
Poesie. Sie passt ihre Sprache an, um die großen Emotionen in geeignete Worte zu fassen, was natürlich zunächst nicht gelingen kann. Sie lernt in Windeseile die deutsche Sprache, weil sie ihm vorgeflunkert hat, dass Deutsch ihr Lieblingsfach sei.
Unterbrochen werden die Geschehnisse 1959/60 von Einschüben, die
Nia im Jahr 2005 und Gedanken, die sich die Autorin 2010 in Auseinandersetzung mit ihrem früheren Ich macht. 2005 diskutiert die erfolgreiche Hochschullehrerin mit den Studierenden Rilke-Gedichte. Es geht natürlich auch hier um unerwiderte Liebe. Nia hat sich die Deutung zu eigen gemacht, dass unerwiderte Liebe nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein muss. Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß sie, dass dieses enorme Gefühl, diese ungeheure Kraft in produktive Bahnen gelenkt werden kann. Unerwiederte Liebe kann jede Art von Kunst inspirieren, ist vielleicht sogar der Ursprung künstlerischen Schaffens. Nia hat durch ihre Liebe die Poesie und die deutsche Sprache für sich entdeckt und dadurch einen Beruf gefunden, der sie erfüllt.
interessanterweise versucht die Hochschullehrerin (2005) den Angebeteten wiederzufinden. Ihre Freundin, die die Suche energisch vorantreibt, missversteht aber die Situation vollkommen. Sie schlägt vor, ein Treffen zu arrangieren, sobald sie die Adresse ermittelt hat. Aber Nia geht es gar nicht darum, den Mann, der sie früher einmal so beeindruckt hat, tatsächlich zu treffen. Sie will nur wissen, dass es ihn gibt und sich vielleicht von Neuem aus der Ferne inspirieren lassen. Ein Treffen des gealterten Mediziners würde vermutlich das starke schwärmerische Gefühl zerstören. Nie hatte Nia einen Mann gesucht, sondern immer einen Gott, eine männliche Muse.
Die 58-jährige Nia der Gegenwart (2010) ist die eigentliche Erzählerin des Romans. Zunächst betrachtet sie den Liebswahn ihres jüngeren Ichs kritisch. Tatsächlich ist sie eine gefeierte Autorin und wenn sie beschreibt, was ihr in jungen Jahren wiederfahren ist, spricht sie von ihrem jüngeren Ich in der dritten Person. Das Mädchen Nia ist Sie. Doch manchmal wechselt die Autorin zum Du, wenn sie am liebsten in der Zeit zurückspringen und ihre Geschicke verändern würde. Sie weiß ja schon, was kommt, warnt dann wie eine sich sorgende Mutter vor Problemen und Gefahren. Aber natürlich hört die jüngere Nia nicht, was die Nia der fernen Zukunft ihr zuruft. Es gibt keine Antwort, keinen Dialog, also logischerweise kein wirkliches Du, von dem eine Reaktion zu erwarten wäre. Wenn man am Lauf der Dinge nichts ändern kann, warum sich also damit beschäftigen? Natürlich kann Nia die Vergangenheit nicht ändern, wohl aber ihren Blick auf sie. Während die Erzählerin zu Beginn des Romans ihr früheres Ich kritisiert und auf den Liebeswahn des Mädchens mit Befremden, Ablehnung oder sogar Scham reagiert, findet sie am Ende tatsächlich zu der Erkenntnis "Ich bin sie", die der Titel schon vorwegnimmt. Damit meint sie nicht, dass sie diesselbe Person geblieben ist, aber ohne die Impulse, die die ungeheuren Gefühle ihr gegeben haben, hätte sie nie die Dichterin werden können, die sie ist.
Mir hat an diesem Roman wirklich gut gefallen, dass die unerwiederte Liebe nicht von vornherein pathologisiert wurde. Das Phänomen wirkt angesichts der Fanpostberge großer Stars oder der Like und Click -Battles unter den InfluenzerInnen sehr modern. Doch Naira Gelaschwili zeigt, wie immer wieder Menschen, vom Mittelalter bis heute, an der unerwiederten Liebe leiden. Zugleich zeigt sie aber auch, dass Gewalt gegen sich und andere keine Lösung bieten. Im Grunde gibt sie den selben Rat wie jeder weise asiatische Kung Fu - Kämpfer im Film: Wir sollen wir den Gegner Liebe nicht auf uns einprügeln lassen, sondern die Macht seiner Schläge umleiten und in etwas Kreatives umsetzen. Soviel für heute. Nach dieser Lektüre habe ich richtig Lust, mal ein Rilke-Bändchen zur Hand zu nehmen...
Leseprobe
Es ist schon Nacht. Der Mond bescheint die Muschachsestraße. Die Fenster schimmern schwarz-gelb. Endlich: Er zieht sich an! Haut ab! Beide verlassen das Zimmer. Im Fenster des Treppenaufgangs sieht sie nur ein paar Füße. Er aber tritt auf den Balkon. Nimmt Abschied von seinem Freund, welcher zum Balkon hinaufschaut. Er hebt den Kopf und fährt mit der rechten Handfläche von rechts nach links wie mit einem Messer durch die Luft. Er kehrt nun ins Zimmer zurück und beginnt, die Teller abzuräumen.
Warum hat diese Niete Ihm alles stehengelassen und nicht beim Abräumen geholfen! Schon stellt sie sich vor, wie sie Ihm hilft. Wie flink sie bei Ihm aufräumt, abwäscht, in den ihr für immer verschlossenen Räumen. (Nia, bist du das? Du hast doch noch nicht einmal vom Boden etwas aufgehoben?) ...
Sie erinnerte sich an ein Märchen: Ein Topfdeckel verwandelt sich in eine Frau und fängt an, alles in der Wohnung aufzuräumen und zu putzen und als der Wohnungsbesitzer wiederkommt, wird sie wieder der Topfdeckel, liegt ruhig da und schaut auf alle und alles mit ihrem Deckelblick. Das wäre ein Ausweg für sie: eben da zu sein wie irgendein Gegenstand, für immer. Sie kann doch nichts anderes. Nur schauen. Das Glück des Schauens. Es lebe das Auge!
S. 22
Facts zur Autorin
Naira Gelaschwili, georgisch ნაირა გელაშვილი, (* 28. Oktober 1947 in Sighnaghi, Kachetien, Georgische SSR, UdSSR) zählt zu den bedeutendsten lebenden Autorinnen Georgiens. Sie ist außerdem Germanistin, Übersetzerin und politische Aktivistin. Nachdem sie bis 1973 an der Staatlichen Universität Tbilissi Germanistik studiert hatte, lehrte sie das Fach von 1975 bis 1981. 1982 bis 1990 arbeitete sie als Lektorin und Übersetzerin im Staatlichen Übersetzerkollegium und übersetzte beispielsweise Rainer Maria Rilkes ins Georgische. Außerdem Werke von Friedrich Hölderlin, Georg Trakl, Paul Celan oder Ingeborg Bachmann.
Von zentraler Bedeutung war das Jahr 1993, als sie Das kaukasische Haus in Tiflis gründete, ein Zentrum für kulturellen Austausch. Sie hoffte, hier eine Basis für ein friedliches Miteinander im Kaukasus schaffen zu können. In den Jahre 1992 bis 1994 war sie als Beraterin des georgischen Präsidenten für Kulturpolitik und nationale Minderheiten tätig.
Weitere Bücher der Autorin
Georgien – ein Paradies in Trümmern (mit Gesprächen mit Eduard Schewardnadse) Aufbau Verlag, Berlin 1993
Georgische Erzählungen des 20. Jahrhunderts (Herausgeberin), Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000
Ich fahre nach Madrid. Übersetzt von Lia Wittek, Verbrecher Verlag, Berlin 2018
Preise
1982 Preis des georgischen Schriftstellerverbandes Beste Erzählung des Jahres
2010 Literaturpreis Saba für den besten georgischen Roman des Jahres
2013 Literaturpreis Saba für den besten georgischen Roman des Jahres
2018 Margwelaschwili - Preis
Das besondere Wort
Bei der Lektüre des Buches begleiten die Leserin jede Menge Eigennamen – vor allem in Form von Straßennamen. Und dabei ist wiederum die Namensendung –„schwili“ auffällig. Ich vermutete gleich zu Anfang, dass die Endung ein angehängtes Nomen sein müsse, wie im Deutschen -mann. Da haben wir ja auch eine ganze Reihe von Kombinationen wie Neumann, Zimmermann, Ackermann etc.
Tatsächlich heißt –„schwili“ so viel wie Kind oder Nachkomme. Anders als zum Beispiel in Island, wo es für Männer und Frauen die Unterscheidung – dottir (Tochter) und – son (Sohn) unterschiedliche Endungen gibt, gilt -schwili offenbar für beide Geschlechter. Baratashvili (Georgisch: ბარათაშვილი) beispielsweise ist eine georgische Adelsfamilie, die im 15. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt wird. Der Familienname Baratashvili heißt tatsächlich Kinder/Nachkommen des Barata.
In diesem Sinne war es dem Mann mit dem Geburtsnamen Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili (russisch: Josef Wissarionowitsch) sicher nicht genug, sich als namentlich „Kind“ zu definieren. Er ging später unter dem selbstgewählten Namen „der Stählerne“ in die Geschichte ein: Joseph Stalin.
Angemerkt
„Der Ritter im Tigerfell“, aus dem im Buch zitiert wird, ist das georgische Nationalepos,
also vergleichbar mit dem Nibelungenlied für Deutschland. Sein Verfasser Schota
Rustaweli schrieb etwa zur selben Zeit wie der Nibelungen-Dichter, nämlich im 12. Jahrhundert. Auftraggeberin war Königin Tamar die Große, die im
Spätmittelalter Georgiens „Goldenes Zeitalter“ zu seinem Höhepunkt führte. Interessante
Frau, über die leider viel zu wenig bekannt ist. Ein Blick in Wikipedia lohnt sich aber.
Um den Stellenwert dieses Werkes ermessen zu können, muss man sich bewusst machen, dass einer georgischen Frau anlässlich ihrer Hochzeit vielfach bis heute nicht nur die Bibel, sondern auch ein Schachbrett und eben dieser Roman geschenkt wird.
Weitere Autorinnen aus Georgien
Diana Anphimiadi
Thekle Bagrationi (1776–1846) თეკლე ბაგრატიონი
Nana Ekwtimischwili (* 1978) ნანა ექვთიმიშვილი
Anastasia Eristavi-Khoshtaria (1868 – 1951) ანასტასია ერისთავი-ხოშტარია
Ekaterine Gabaschwili (1851–1938) ეკატერინე გაბაშვილი
Nino Haratischwili (* 1983) ნინო ხარატიშვილი
Ana Kalandadse (1924–2008) ანა კალანდაძე
Ana Kordzaia-Samedaschwili
Nestan Kwinikadze
Manana (18. Jahrhundert) მანანა
Ana Mcheidse (1951–1998) ანა მხეიძე
Tamta Melaschwili
Maka Mikeladze
Esma Oniani
Irma Shiolashvili (*1974) ირმა შიოლაშვილი
Eka Tchilawa
Ekaterine Togonidze
Anastassia Tumanischwili-Zereteli (1849–1932) ანასტასია თუმანიშვილ-წერეთელი
Links zur Autorin
Tschetschenienabend bei Ekke Maaß - 30. März 1996 - Bing video
https://www.amnesty.de/journal/2010/dezember/keine-die-aufgibt
Links zum Buch
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