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Grenada

Liebe Lesende,

im ersten Post im Neuen Jahr geht es nach 

Grenada

 


 

 

 

 

 

 

 

 

und wir lesen

Merle Collins: Angel. Women's Press, 1987

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Rezension

Angel ist der Name der Protagonistin, mit der wir die Revolutionsjahre in Grenada durchleben. Das koloniale Zeitalter ist vorbei, die Massen erheben sich gegen die Unterdrückung und Amerika startet eine Invasion.

Angel ist die Tochter der Kakao- und Muskatpflückerin Doodie, die ihr Leben lang schwer auf den Plantagen gearbeitet hat, um der Tochter eine Ausbildung zu ermöglichen. Tatsächlich schafft Angel die High School und besucht dann sogar die Universität in Jamaica. Hier kommt sie mit dem Black Power Movement in Kontakt und beginnt, das nachkoloniale System anzuzweifeln.

Für ihre Eltern ist „Leader“, ein Aktivist der Trade Union, die Heilsgestalt, auf die sie bauen, obwohl dem Mann längst die Macht zu Kopf gestiegen ist und er seine ursprünglichen Ideale über Bord geworfen hat. Angel glaubt im Gegensatz zu ihren Eltern nicht, dass der korrupte „Führer“ die Lebensumstände der schwarzen Bevölkerung ändern will. Auf den Plantagen hat sich für die Arbeiter seit den Zeiten der Kolonialherrschaft wenig geändert.

Als die USA schließlich die Invasion in Grenada startet, ist Angel völlig zerrissen. Einerseits ist sie zornig, dass eine fremde Macht einfach so auf ihrer Insel einmarschiert, andererseits sieht sie die revolutionären Anführer „Leader“ und den neuen „Chief“ durchaus kritisch. Beide versprechen Schutz und Hilfe gegen den äußeren Feind. Beide vertreten in der Theorie den Sozialismus, gleichzeitig bekämpfen sie sich aber gegenseitig und gehen dabei auch brutal und oft völlig willkürlich gegen die Zivilbevölkerung vor. Wie soll man sich hier politisch aufstellen? Welche Rolle spielen die Frauen? Und wo bleibt in diesem ganzen Schlamassel eigentlich Papa God?  

Merle Collins hat hier sehr eindrucksvoll beschrieben, wie sich das politische Bewusstsein einer Frau bildet. Dabei legt sie allergrößten Wert auf Authentizität, was den Lesenden die Chance gibt, wirklich mehr über das Land und seine Bewohner zu erfahren, aber auch ganz eigene Herausforderungen beinhaltet. Ihre geschliffen formulierten beschreibenden Textteile stehen unvermittelt neben langen Passagen in wörtlicher Rede, die in grenadischem Kreol abgefasst sind. Am Anfang liest man diese Passagen am besten laut, das hilft beim Verstehen. Gemeinsam mit Verweisen auf Musik und Poesie zeichnet Collins so das Bild einer Gesellschaft mit eigener Kultur ohne zu romantisieren oder abzuwerten. 

Ich finde es sehr faszinierend, einerseits in eine völlig unbekannte  Welt abtauchen zu dürfen und letztlich doch auf durchaus Bekanntes zu stoßen. Um es mit Doodsies Worten zu sagen: „Es ist dieselbe Geschichte wie überall.“ In diesem Fall aber doch neu und interessant erzählt.

Folgendes Zitat ist mir in Bezug auf all zu Menschliches besonders ins Auge gestochen. Wir diskutieren ja permanent über Meinungsblasen, fake news und Autoritätsglaube innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe. Manchmal muss man sich wirklich vor Augen führen, dass es all diese Dinge natürlich auch schon vor dem Internet und überall auf der Welt gegeben hat. Ich zitiere diesmal im Original, damit der kreolische Zungenschlag nicht in der Übersetzung verloren geht:

Leseprobe

'Wo-o-oy!' Gale looked at Angel with mock-admiration. She pushed the glasses higher on her nose. Arms akimbo', she said, 'You mus run for election, girl! You have me vote firs ting!' 'Somebody put her outside gimme, please!' Gale laughed. 'Dat is what you call silencin de opposition! Allyou see? Huh!  It don easy, non! Ay-ay! An is not even opposition, you know! Ah supportin, yes! Well ah tell you! Dis is a hard life, boy! '

Angel opened her mouth to continue. Her right forefinger went up preparatory to emphaisising some point.

'Awright, awright, Angel. Ah caan take it!' Gifta broke in. 'Allyou would never imagine me and dis woman go to same school at aroun same time! Believe me, girl, ah don know wey you get these ideas an dem! I even go to university jus two years after she, you now!'

'Is true!' Gale looked at Angel with suspicion. 'Is true, you know! All you come outa de same water barrel, so to speak!'

'But we don stan up one place. We go on findin out what history is all about an why we been prayin!'

'I don need to know dat to know dat communism is not what I want for Grenada."

'So what is communism?' 

'All of us hear about what does go on in Russia. People can't go to church, although I know that won't bother you dis Angel, in these days?'

Gale chuckled ( ...) 'If they even see you prayin, you in trouble. And nobody could really own anything!'

'Non,' said Gale, 'well dat is not me line at all.'

'For somebody who suppose to read a lot, Gifta, ah find you should at least want to investigate things people say. I find you should at least investigate. Where you get dat news from? You never feel sad that after we pray we never even try to look for books to find out, what history is all about? We never even curious. We take what people tell us an say 'Yes, Massa. Yes, Baas. Yes ma'am."

S. 256 

Facts zur Autorin

Merle Collins machte 1972 ihren Abschluss an der University of the West Indies in Jamaica in den Fächern Englisch und Spanisch. Danach kehrte sie nach Grenada zurück, wo sie Geschichte und Spanisch unterrichtete. Ihren Master erlangte sie 1980 an der Georgetown University in Lateinamerika-Studien.

Bis 1983 war die Autorin während der Revolution für die Regierung Grenadas als Koordinatorin tätig (Research on Latin America and The Caribbean).   

1984 zog Collins nach England um und lehrte zehn Jahre lang an der Universität von North London. Momentan ist sie Professorin für Komparatistik und Englisch an der Universität von Maryland. Ihre wissenschaftlichen Publikationen sind ebenfalls lesenswert, z.B.: "Themes and Trends in Caribbean Writing Today" in „From My Guy to Sci-Fi: Genre and Women's Writing in the Postmodern World“ (ed. Helen Carr, Pandora Press, 1989), oder auch "To be Free is Very Sweet" in Slavery and Abolition (Vol.15, issue 3, 1994, pp. 96–103).

Ihre erste Gedichtsammlung Because the Dawn Breaks erschien 1985. Inspiration fand sie als Mitglied des African Dawn, einer Performance Gruppe, die Dichtung, Schauspiel und afrikanische Musik kombinierte. 

1987 veröffentlichte sie ihren ersten Roman Angel, der international Beachtung fand.

 

Weitere Werke der Autorin

Gedichte

Because the Dawn Breaks, Karia Press, 1985

Rotten Pomerack, Virago Press, 1992

Lady in a Boat, Peepal Tree Press, 2003

 

Roman

The Colour of Forgetting, Virago Press, 1995

 

Kurzgeschichten

Rain Darling, Women's Press, 1990

The Ladies are Upstairs, Peepal Tree Press, 2011

 

Weitere Autorinnen aus Grenada

Joan Anim-Addo

Peggy Antrobus

Jean Buffong

Verna Wilkins

 

Angemerkt

Die Figur "Leader" wird oft als Eric Gairy interpretiert, der eine entsprechende Rolle in Grenada gespielt hat. 

 

Links zur Autorin

Merle Collins | Caribbean Literary Heritage 

Merle Collins | Peepal Tree Press 

 

Links zum Buch

Collins: Angel | The Modern Novel 

 

Links zum Thema

How a Revolution on the Tiny Island of Grenada Shook the World (jacobinmag.com) 


 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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